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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Telefonnummer selbst im internen Verzeichnis der Akademie-Mitglieder aufgenommen wird: «Der gehört zu den Leuten, die, wie Ulrich Becher, völlig vereinsamt, ihre Nummer aus dem Telefonbuch streichen lassen, weil sie sich angeblich vor Anrufen nicht retten können; es ruft aber NIEMAND an – ähnlich wie jene, die zu ihrem 60. Geburtstag verreisen unter dem Motto ‹Ich muß mich der übergroßen Feierei entziehen› – weil sie wissen, KEIN MENSCH feiert sie.»
    Nachzutragen auch noch Naumanns Bösartigkeiten gegen Rühmkorf, der eben noch sein Liebling war; schrecklich, wie ein Autor, JEDER Autor, abhängig ist von der Gunst seines Verlegers, aus der er rasch fallen kann.
    23. Oktober
    Was ich vor Jahr und Tag in philiströser (und auch pharisäerhafter) Weise, allerdings mehr jokingly gesagt habe: «Demnächst werden die Horden aus der asiatischen Steppe, aus China und Rußland durch unsere Villenstraßen ziehen und …»: Das ist jetzt (fast) wahr.
    Zwar ziehen hier keine Horden durch, aber DIREKT VOR MEINER TÜR, neben der Garagenauffahrt, «wohnt» ein Obdachloser auf der Straße, liegt in der Kälte auf einer zerlumpten Matratze, zugedeckt mit einer Plastikfolie. Als «Möblierung» ein aus dem Supermarkt geklauter Einkaufswagen, an dem irgendwelche Plünnen und ein Paar Stiefel hängen, am Handgriff eine Plastikkinderwindmühle befestigt und neben dem Schild «Bitte Hilfe» ein Geranientopf.
    Das ist einerseits noch immer die «deutsche Gemütlichkeit», sozusagen «Schöner wohnen in der Gosse», noch im Dreck bißchen was Nettes – das ist andererseits erschütternd und gräßlich. Da rausche ich also mit meinem 12-Zylinder-Jaguar aus der Garage, vorbei am nackten Elend. Ich alleinstehender Mensch bewohne 7 Zimmer mit 2 Bädern. Und da liegt ein Mensch wie ein Lumpenbündel. Als ich das mal vor vielen Jahren aus New York berichtete, daß auch die Damen Kennedy oder Getty aus ihren luxuriösen 5 th -Avenue-apartments , wenn sie ihre Chauffeur-driven-limousines besteigen wollen, über solchen in Pappkartons hausenden Menschenmüll hinwegstaksen müssen – da schien das exotisch, weit weg, fast unvorstellbar. Jetzt ist es hautnahe Wirklichkeit. Wie verhält man sich? Man kann ja wiederum so jemanden nicht ins Haus lassen/bitten (etwa, damit er mal baden kann). Aber mein Hinlegen von Schinkenbroten ist doch auch kläglich?
    26. Oktober
    Enttäuscht bis entgeistert von der nun seit langem erwarteten Uwe-Johnson-Biographie, ein dicker Wälzer in Oberlehrerdeutsch, ohne Schwung, ohne Annäherungsmöglichkeit an diese seltsam-verschrobene und auch heimtückische Figur, die nur BEschrieben, aber nicht er-schrieben wird.
    Selbst meine, wenn auch nur sehr partielle, Kenntnis dieses Mannes, mit dem ich mich auf eigenartige, fast masochistische Weise befreundet wähnte, gibt mehr von den Blitzen und Zacken als dieses Proseminar auf Papier.
    Die Mischung aus Bedrohlichkeit und Sanftheit, Schärfe, Verurteilung und verletzlicher Behutsamkeit ist überhaupt nicht erfaßt. «Katharina, mach dich nicht ran» konnte er zu der kleinen Tochter sagen, wenn die sich mir (weil sie an mir hing) auf den Schoß setzte, und dem weinenden kleinen Mädchen ging weder Mutter noch Vater ins Schlafzimmer nach. «Das tut man nicht» war sein oberstes Gebot (woher dieser aus kleinsten Verhältnissen stammende Mann das eigentlich wissen wollte), und das konnte sich darauf beziehen, daß «man» beim Tippen zwischen Satzzeichen eine Leertaste schlägt, das konnte sich aber auch auf Existentielles beziehen: Als ich nach Eckfrieds Selbstmord am Rande meiner Kraft, meiner Lebenskraft war, besuchte er mich in Hamburg, wir standen auf meiner Leinpfadterrasse, und er sagte: «Hier wird sich, Fritzchen, nicht runtergestürzt.»
    Das Makabre: daß ER sich fast sein ganzes Leben «runterstürzte», ob durch die ewige Raucherei oder die exzessive Trinkerei. Ich ging ja von meinen Besuchen bei ihm, weiland noch in Berlin, stets so sturzbetrunken weg (nach MINDESTENS 5 Flaschen Wein), daß ich wie ein Fisch im Aquarium nicht wußte, schwimme ich nach oben oder nach unten; wenn ich mich recht erinnere, gibt es bei Jürgen Becker in einem seiner Bücher eine Scene «Raddatz weht mit einem Mantel ohne Knöpfe den Ku-Damm entlang» oder so ähnlich; da kam ich von einem dieser Johnson-Gerichtstage.
    Gräßliche kleine Scene in meiner Erinnerung festgebrannt: Ich hatte die kleine Tochter nach Hamburg eingeladen, sie kam am Flugplatz an, ein getrimmter

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