Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Francisco, wo er «hingeflüchtet» ist, weil er Berlin nicht mehr aushält, wo er – wovon nur – ein Appartement für mehrere tausend Dollar pro Monat hat und «Stadtgespräche» mit Europa führt – nur, es sind überhaupt keine «Gespräche», eher ein Lallen. Wie jemand, der hellen Bewußtseins betrunken ist, aber seine Gedanken nicht gliedern kann. Es geht zwischen Kohl und Pohl – «Das habe ich garnicht gelesen, nur den Teil über mich» – hin und her, zwischen «Ich hab Sie lieb» (???) und «Frauen verstehen nicht, was ich mache». Er sitzt angeblich an der 6. Fassung eines Romans – kann das SO was werden? Mit wem verkehrt er überhaupt? In Berlin «trinke ich nur oder kokse» – aber das scheint dort genau dasselbe zu sein. Dieser Mann geht unter. Vielleicht ehrt ihn das – ähnlich wie es in gewisser Weise Augstein ehrt, daß das Geld ihn kaputtgemacht hat.
18. September
Die Sätze des Arztes Relling in Ibsens WILDENTE – neulich sehr markant in Flimms grandioser Inscenierung, mit wunderbaren Schauspielern – haben mich an mir irregemacht: Auf die Frage nach einer «Kur» für den weltverbesserischen Ekdal sagt der: «Meine gewöhnliche. Ich sorge dafür, die Lebenslüge in ihm zu erhalten … Ja, ich sagte die Lebenslüge. Denn sehen Sie, die Lebenslüge, die ist das stimulierende Prinzip.»
19. September
Gestern also das «Friedensfest» für Grass und Wunderlich (der nicht wußte, daß Grass – der ihm in letzter Zeit zunehmend auf die Nerven ging, eingeladen war –). Gleich zu Beginn der Violinschlüssel zum gesamten Kammerkonzert-Abend: Wunderlich geradezu ergriffen von der Schönheit meiner neuen Neger-Skulptur, die bei mir nur «der schwarze Giacometti» heißt und dessen strenge Eleganz hat, geheimnisvoll und erhaben – und Grass, der, kaum besehen, zu schwätzen anfing: wie die Dinger heißen, wo sie herkommen, daß er da mal war, daß er weiß, wo und wie und von wem sie gemacht werden.
Ansonsten ein friedlicher, gemütlicher Abend. Die Überschrift für den Abend hätte heißen können DIE ZÄHMUNG – denn Grass war brav, unstreitsüchtig, ließ das Politik-Gezänk beiseite (und war, auch komisch, dadurch wiederum etwas langweilig). Aber er hatte wohl gespürt/geahnt, daß Paul sich deswegen zurückgezogen hatte, nicht ständig belehrt werden wollte. Paul ist schon ein Menschen-Bieger (VERbieger?).
Hotel Vier Tore, Neubrandenburg, den 25. September
Zurück von einer traurig-machend-schönen Herbstfahrt durch Mecklenburg-Vorpommern, durchs Uwe-Johnson-Land, ZU Uwe Johnson, weil ich die Laudatio für den ersten Uwe-Johnson-Preisträger hielt, allerlei Notizen.
Die Fahrt bei strahlendem Indian-Summer-Sonnenschein, entlang diesen im Licht schimmernden silbern geschuppten Seen, darüber Störche, Kormorane und allerlei andere Vögel, durchschnitten von gemächlichen Seglern, war wunderschön, im bequem dahingleitenden Jaguar mit Beethoven-Pollini.
Die Laudatio hielt ich gerne, weil ich diesen Kurt Drawert mag – und zwar doppelt: Ich finde, er ist ein guter Lyriker, der seine Verletzungen durch Geschichte und Gesellschaft (der DDR) nicht ausstülpt, sondern zum Grundieren existentieller Befindlichkeit macht:
Und zu mir kommen,
und mich zu berühren,
wie mich noch niemand berührt hat,
weshalb ich nicht
ohne dich sein kann,
wie ich es mit dir nicht lange
ertrage, und so gehen wir beide
aneinander entzwei, wie wir entzweit
voneinander zugrund gehn,
was meine Trauer begründet,
die ohne dich sprachlos sein würde
und ein zu schneller, sinnloser Tod
wär inmitten des Lebens mit dir
als Objekt und Verlangen
der Träume.
Das ist schon was.
Der Kerl kann aber auch noch etwas anderes, was mir imponiert (EINARBEITEN IN ROMAN!!!!) – er kann unerbittlich sein gegenüber dem Mitläufer- wie Denunziantentum, das sich jetzt zwischen Jammern und «Opposition» die Hände ringt, einer Opposition, die es vorher durchaus NICHT gab: «Die einen fühlen sich zum ersten Mal von der Geschichte und ihren Führern betrogen, und die anderen fühlen sich zum zweiten Mal von der Geschichte und ihren Führern betrogen, und sie werden abermals von der Geschichte und ihren Führern betrogen werden und dann noch einmal, bis zum Ende und bis zum endgültigen Ende hin, denn sie wollten den Betrug, solange er ihnen einen kleinen, schäbigen Vorteil versprach, sie übten eine Funktion aus innerhalb dieses Betrugs, der ein von ihnen selbst erwählter Betrug war, sie haben jeden Tag gesehen und gehört
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