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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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und gelesen, daß alles ein großer, endloser Betrug ist, aber sie haben ihre Funktion ausgefüllt …»
    Großartig, genau das ist es, das waren sie alle als Blockwart und als «Genosse», und deshalb ist das jeweilige «Reich» wie Spülwasser im Abfluß vergurgelt, damals die HJDolche und die Fahnen und die Parteiabzeichen – und jetzt die Mauer und das DER MARXISMUS IST ALLMÄCHTIG, WEIL ER WAHR IST-Plakat. Der Herr Kant hatte ja schon am 17. Juni rasch sein Parteiabzeichen abgemacht, ich kann das bezeugen, denn ich WAR an dem Tag im germanischen Seminar, das er bis 1 Stunde zuvor als SED-Assistent terrorisiert hatte, und nun lief er mit eingeklemmtem Schwanz und niedergeschlagenen Augen und ohne die Plakette mit den verbundenen Händen rum – so mies, schäbig und rasch bereit zum Verrat wie sie alle stets. Auch dazu ziemlich gut der Drawert: «Hätte in einem langen, aufopferungsvollen Kampf eine Opposition das totalitäre Gebäude gestürzt, würden wir jetzt am Anfang einer neuen Epoche stehen. Aber gerade die unerwartete Plötzlichkeit, mit der ein Weltimperium zusammengebrochen ist, das kurze, geschichtliche Fingerschnipsen, das hierfür genügte, der leichte äußere Windstoß: das ist die große Beleidigung …»
    27. September
    Gestern schockierender Abend mit Hans Platschek: ein Greis ohne Witz, ohne Charme, erloschen, gebückt mir mit Tatter-Eifer buchstäblich 10 seiner Bilder («Jedes in 2 Stunden gemalt») vorstellend, nicht etwa kurz abwechselnd, sondern jedes minutenlang betrachtend und meine erzwungenen Kommentare – «Nein, das Blau dort rechts oben», «Sehr gut, Ihr Selbstportrait» – aufleckend. Er begrüßte mich: «Mögen Sie ein Glas Apfelsaft?», was ich zuerst als Witz nahm und lachend ablehnte, dann drohte er allen Ernstes Apfelsaft mit Rum an, schwadronierte nur Unsinn, jedes der Bilder – von der Kunstfertigkeit der Pflastermalerei – koste 10.000 DOLLAR, er sei jetzt von einem Zivi versorgt, den ihm die evangelische Gemeinde (für monatlich 40 Mark) stelle, er könne nichts mehr essen, sich zugleich nicht vor den Frauen retten (das ist alt bei ihm), vor dem ständig piependen Fax, aus dem aber nichts kam, stand er, ein gebückter, krummer alter Shylock, und rieb die Hände, als erwarte er 1000 Mark-Scheine, die das Ding ausspeie; auch die kamen nicht. Alle möglichen drahtlosen Telefone kreischten und klingelten – aber es war nie jemand dran; ob er sich solche elektronischen Signale selber bestellt wie alte Stars die Blumen?
    Im Mühlenkamper Fährhaus bestellte er als Drink einen Pfefferminztee, DAZU Rum mit Zitronensaft, DAZU ein Bier, DAZU Glühwein, den es nicht gab, also Grog – weil er friere –, das Grogglas war ihm zu heiß, wozu zu Recht der Kellner sagte, so sei es doch gedacht und warum er es nicht am Stiel anfasse – kurzum: ein Tattergreis, der im Restaurant belächelt wird, der NICHTS aß, die herrliche Krebssuppe ungegessen zurückschickte, stattdessen einen riesigen Espresso bestellte – aber noch immer ein Herr blieb: Er bestand darauf, nicht nur mich einzuladen (zu welchem Zweck er mit zitternden Händen eine Brieftasche voller Geld, Kreditkarten usw. auf den Tisch schüttete), sondern mich auch per Taxi nach Hause zu bringen, obwohl der Wagen genau an seinem Haus vorbeifuhr. Wie der jämmerliche, knochige Rest vom einstmals eleganten, Geistesblitz und freche Witze wie ein Vulkan hervorsprühenden Platschek.
    Wieviel älter als ich ist er eigentlich?
    Kampen, den 30. September
    Interessante Erfahrung mit der Diskrepanz des Arbeitsbegriffs in West und (ehem.) Ost.
    Hier, im Westen, wird die Arbeit heiliggesprochen, -gehalten –, aber nicht der INHALT der Arbeit, sondern die Tätigkeit als Erwerbszweck. Es ist ganz selbstverständlich und gilt auch nicht als unhöflich, einer Verabredung wegen «Ich habe eine dringende Besprechung» oder «Ich muß was mit meinem Verleger/Galeristen/Chefredakteur besprechen» abzusagen.
    So erinnere ich mich, wie verblüfft ich schon vor 100 Jahren war, als ich Enzensberger mal in Rom anrief und mich zu einem Schwatz (typisch Zone) verabreden wollte und er sagte: «Heute und morgen kann ich nicht, ich habe Terminarbeiten, vielleicht in 3 Tagen.» Selbst Wunderlich terminiert ein Essen um: «Da kommt ein Galerist.» Es sind also Handels-Verabredungen. Und wenn jemand erwartet, der/die andere(n) seien interessiert am INHALT der Arbeit des anderen – der täuscht sich gewaltig. Die Grasssche Attitüde, seine Radierungen zu

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