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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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einen Kühlschrank abbezahlen, aber nicht ein Bild. Beweis für die Dummheit von Ethos – so hätte ich heute eines seiner schönsten Bilder, und ER wäre damals vermutlich über den Abzahlungsvertrag froh gewesen.
    Hotel Kempinski, Berlin, den 1. März
    Berlin: das Zentrum eine einzige Baugrube, man watet durch Dreck, Bauschutt und über Planken; unter denen sich – immerhin – die ersten Glas- und Prunkfassaden (z. B. in der Friedrichstraße) erheben.
    Enttäuschend Grosz.
    Da sind nur SEHR wenige Bilder gut, sind überhaupt BILDER – vieles ist mit dem Strich einer Anti-Reklame Plakatkunst, bestenfalls «hübsch». Am erschreckendsten die Primitivität der «obscönen» Bilder, die mehr Pissoir- Zeichnungen gleichen als Kunst: grob, direkt, offenbar zur Selbstaufgeilung verfertigt und – besonders abstoßend – in einer Art Sonderkabinett gehängt, in dem vom Tonband kleine Ferkel-Verse (von wem? Von Grosz?) geflüstert werden, irgendwas von Fotze und Schwanz und Abspritzen. Eigenartig, wie stark meine Bremse gegen derlei, wie mich ja auch Fick-Filme ekeln. Pornographie dieser Brutalität verletzt irgendwas in mir. Ist es gar Scheu? MACHEN tu ich gerne alles und hab’s ja auch mein Leben lang getan – aber die DARSTELLUNG (es sei denn, es ist KUNST) stößt mich ab.
    Bemerkenswert dann mein Interview-Besuch bei Stephan Hermlin, vor dem (ihm wie dem Besuch) ich mich mächtig nervös gemacht hatte bis hin zu gestörtem Schlaf und wilden Träumen.
    Lustige und nicht so lustige Äußerlichkeit: Was damals uns jungen Leuten so fein und reich und bonzenhaft schien, ist, von heute her gesehen, ein ärmlich-verkommenes, mieses und übelschlampig möbliertes Siedlungshaus.
    Die Begegnung überraschend herzlich und das Gespräch ebenso überraschend offen (wobei ich allerdings aus Sorge, die Blume schließe sich dann sofort, bohrend-aggressive Fragen vermied). Lästig allenfalls die nicht nur Anwesenheit, sondern auch das Dazwischengerede seiner aufdringlichen Klafte von Ehefrau, die ich erst zum Schweigen brachte (selbst ER mußte ihr manchmal über den Mund fahren), indem ich sagte: «Frau Hermlin, gerne mache ich demnächst ein Interview mit IHNEN – heute mache ich eines mit Stephan Hermlin.»
    WAS er sagte – vor allem sein Bejahen des Revolutionsterrors, frei nach dem Banal-Motto «Wo gehobelt wird, da fallen Späne» –, war z. T. entsetzlich und ist (nach meinen Interview-Gesprächen mit Biha, Semprún, Amado usw.) eine direkte Fortsetzung meiner Polit-Ethnographie. Was nur in den Köpfen dieser Wegseher und Verschweiger los war …
    Umgekehrt wieder frappant, wenn er sagt (und ich glaube, da lügt er nicht), daß ER es war, der so manchen – «Die saßen hier, Raddatz, auf DIESEM Sofa, und flehten mich an, was zu tun» – durch seine Intervention «bei höchsten Stellen» (später benannte er die: Honecker) die Ausreise ermöglichte. Wenn DAS stimmt – haben die sich, zumindest IHM gegenüber, unanständig benommen; und hat ER nicht ganz unrecht, wenn er sich gegen die Inanspruchnahme des Begriffs «Flüchtling» durch diese verräterischen Kollegen aufbäumt.
    Ach, es stimmt wohl doch der von mir so verachtete Satz «Charakter ist nur Eigensinn» bei meinen Freunden, den Literaten. Etwa, wenn ich gestern in den Zeitungen lese: Günter Grass stellt demnächst mit einer Lesung im Frankfurter Haus der jüdischen Gemeinde sein neues Buch vor – eingeleitet von Marcel Reich-Ranicki.
    Sein TODfeind, der Mann, den er angeblich tief verachtet – «Dem gebe ich nie wieder die Hand» –, der ihn von BLECHTROMMEL bis UNKENRUFE auf das verächtlichste angegriffen hat, über dessen letzten geradezu berserkerhaften Verriß er bei mir am Telefon TATSÄCHLICH WEINTE: Dem übergibt er zur Taufe sein neues Kind. Ja, das muß man Charakter nennen.
    Wieder einer weniger. Ich will Grass vorerst und wohl für lange nicht sehen.
    «Ein intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens. Ich wußte beide mir immer von neuem zu verschaffen.»
    Sigmund Freud in DIE TRAUMDEUTUNG (zitiert nach der Peter-Gay-Biographie, Seite 69).
    4. April
    Langer und unkonzentrierter Nachtrag, nach 14-Tage-Reise nach Lanzarote: Klima das Ideale für mich wie auf allen Kanaren, aber das «Publikum» in der Mischung aus tätowierten Tankstellenpächtern und Zweitfriseusen (if so …) total unerträglich. Die Schmerbäuche schon mittags beim Bier, jeden Spanier, und wenn’s ein Maurer ist,

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