Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Miller (zur Vorbereitung meines Interviews): Dieser bald 80jährige ist jünger als mein Neffe, sprüht vor Interesse («Was ist in Deutschland los?»), hat auch, was man ihm wahrlich wünscht, noch neue Erfolge – einen neuen Roman, Polanski will ein Stück inszenieren, sein letztes hatte Riesenerfolg am Broadway, und ein anderes wird in Hollywood verfilmt.
«Was – der lebt noch?» fragte dann gestern abend zu meinem Entsetzen ganz unverblümt die etwas zippige Frau von Adami (beide kamen zum Drink nach dem Dinner ins Restaurant – weil er zu einem mondänen Cocktail mußte, ich glaube, die Prinzessin von Monaco hatte Geburtstag, und er «lebt» ja in Monaco, d. h., er zahlt keine Steuern). Er wie immer herrlich, sprühend, übrigens ein sehr gut aussehender Mann (der angeblich ohne jede Sexualität lebt), meine Schwester, die fleischfressende Pflanze, verschlang ihn mit den Augen (und da alles, was eine Hose anhat, ihr das bißchen Gehirn vernebelt, sprühte sie nicht nur vor Charme und Witz in 3 Sprachen, sondern merkte gar nicht, wie «neutral» der Mann ist).
Hôtel Le Littré, Paris, den 3. Juni
Nachtrag über charme-lose Tage in Paris, vom 27. Mai – 1. Juni.
Die Idee, daß ich mich mit meiner Schwester dort treffe – MEIN Vorschlag und mein Geschenk –, um mit ihr dort ihren Geburtstag am 31. Mai zu feiern; VIELE Brüder würden wohl derlei nicht tun …
Es war nur insofern keine gute Idee, als sich die Mischung aus molluskenhafter Apathie und uninteressiert-chaotischem Passivsein noch potenziert hat. Sie und ihr mitgebrachter jüngster Sohn, gleichsam eine männliche Schnecke, reagieren nur auf direkte Berührung. Das heißt, ohne «Kommando» geschieht rein gar nichts, wird nicht mal gegessen. Nur ein ständiges «Jetzt gehen wir ins Rodinmuseum – Marmottan, Louvre», was weiß ich, setzt sie in Bewegung, nach dem Schlachtruf: «Was ist heute für ein Wochentag, für ein Datum, wie spät ist es, was machen wir hinterher, wo ist die U-Bahn, wie fährt man mit der U-Bahn?» Ich war der Treiber einer Schafherde, mußte mich innerlich entschließen, eben MEIN Paris zu entdecken respektive zu genießen und mir die Laune nicht verderben zu lassen durch den stummen Konsumismus vor Monet, Minne-Knaben oder Picasso.
Die köstlichsten Mahlzeiten, ob Austern in der Coupole oder Fischgulasch bei Bofinger oder «großes» Geburtstagsdiner «Chez Francis», wurde stumm gelöffelt wie eine Eintopfsuppe, nie ein Ausruf, ein Schrei: «Mein Gott, ist das schön!», nie ein DANKE, nie ein Erstaunen. Diese beiden Menschen, ohne Spielformen, Gesten, Begeisterungsfähigkeit, sind ganz «zu» – und ich glaube dem Neffen kein Wort apropos seiner Kunstsinnigkeit. Er ist am KunstHANDEL interessiert.
Schmarotzer, die mich mit ihrer tagelangen Aussaugerei physisch krank machen.
Das hat viele Ebenen. Die eine ist: «Fritz kennt so viele interessante Menschen» (die man nachgerade anfordert): Adami oder Cioran in Paris, Wunderlich in Hamburg – doch es käme meiner lieben Schwester NIE in den Sinn, WOHER ich die eigentlich kenne; daß das eventuell mit meiner Arbeit, mit MIR zusammenhängt – denn die Arbeit ist ihr vollkommen fremd wie gleichgültig, ohne Rücksicht kommt sie, während ich an einem Manuskript sitze, ins Zimmer – sie käme auch zu Picasso ins Atelier, während er malt –, um mir mitzuteilen, daß ihr linker Fuß juckt, daß sie friert, daß sie ich weiß nicht was geträumt hat.
So mußte ich mich in «mein» Paris zurückziehen – das immerwährende Glücksgefühl, das ich angesichts der schönen Fassaden, der Häuser, der Kirchen, der Kunst habe – auch die kaufbare etwa im Louvre des Antiquaires, wo der junge Herr nicht EINE Sache wirklich ansah, so, wie er hier, bei einem Ausflug von Hamburg nach Lübeck, vor dem Buddenbrook-Haus nickte, als ich sagte: «Hinein willst du ja wohl nicht», obwohl eine Ausstellung über Thomas Mann und Heinrich Mann dort lief.
Sie mampfen, statt zu essen, sie sehen nichts, sie lernen nichts, sie reisen im Vertrauen, der liebe Fritz zahlt alles, ohne einen Pfennig in der Tasche um die halbe Welt – und ich drehe mich mit brüllendem Kopfweh und schmerzender Rückenverspannung nachts schlaflos im Bette.
Pause machen!!!!!!
17. Juni (!!!!)
(Überraschender?) Anruf von Günter Grass. Das Fragezeichen, weil ich – hoffentlich nicht ZU mißtrauisch – ein wenig vermute, er wollte hören, ob ich seinen neuen Roman rezensieren werde. Jedenfalls fragte er
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