Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
jede DON CARLOS-Scene ist PER SE da, Literatur, selbst wenn bei einem Stück der Regisseur «Les-arten» anbietet; der Text ist der Text selber, die Skulptur ist kein Formangebot, sondern sich selber Form.
Darin liegt das Schöne, wohl aber auch das Gefährliche der Musik – sie kann «aufgefüllt» werden bis zum Pausenzeichen der NS-Sondermeldung – was mit einer Brecht-Gedicht-Zeile nicht funktionierte.
Hotel Vier Jahreszeiten Kempinski, Berlin, den 14. April
Eben retour von überleichtsinnigem Berlin- weekend (das ich Gerd zu Weihnachten geschenkt habe); überleichtsinnig, weil ich ja auf meinem Hosenboden sitzen müßte und Harry namens Heine lesen.
Die Stadt kaum mehr in den Griff, geschweige denn Be-griff zu kriegen: das kümmerliche Krieger-/Siegerdenkmal der Russen vorm Brandenburger Tor, wo kein Blümchen und kein Wachsoldat, weil DIE zu arm und WIR keine Lust dazu, selbst die einst doch bedrohlichen und vor allem siegreichen Panzer sehen dürftig aus, wie Spielzeug – – – – und dann der Glas- und Lichtpalast der in der Friedrichstraße neu eröffneten Galerie Lafayette, westliche Glanzfackel über dem alten Osten flackernd und triumphierend, allenthalben neue, z. T. schöne, zumindest anspruchsvolle Häuser, Geschäfte, penthouse- Wohnungen mit Blick auf Gendarmenmarkt und Französischen Dom, das Adlon entsteht wieder und neu-alt als Prachtpalast, neben dem – buchstäblich NEBEN – die protzige sowjetische (russische) Botschaft aussieht wie ein alter Knickerbocker-Anzug – dann wieder stolpert man aus dem Bahnhof Friedrichstraße wie nach einer Bombennacht, alles aufgerissen, aufgewühlt, alles wird «grundsaniert», das ärmlich wirkende BE kaum zu finden oder der «preußische Ikarus» an der Weidendammer Brücke, den einst Biermann besang – – – – aber INNEN, IM BE, eine dann doch grandios-seltsame, anti-Brechtsche Brecht-Inscenierung, Schleefs PUNTILA, der nix auf dem Tisch torkelt und nix besoffen singt, kalt, genau, böse, sehr choreographisch, ekelhaft z. T. mit den ewigen nackten Männern und Fick-Scenen – – – – aber: Es hat schon was, da ist ein hoch-manirierter Stil-Wille, da ist der Imperativ des Meisters befolgt, den man – steht man in der Bibliothek, vom Rücken seiner Bücher ablesen kann: BRECHT STÜCKE. Anfangs gelangweilt und angewidert, war ich dann doch fasciniert von diesem kalten Marsch durch die BBinstitution (die in der Berliner Presse auch z. T. umjubelt) – – – floh dennoch nach 2 Stunden (statt die verordneten 5 abzusitzen) in die PARIS BAR zu westlichen Austern. Aber die Stadt schlägt mit Tiger-Tatzen in einen hinein, man könnte jeden Abend vom Orgelkonzert im wilhelminisch-kitschigen BERLINER DOM bis zum Barenboim-Mahler-Konzert in jener Konzerthalle was unternehmen, die einst DEUTSCHES SCHAUSPIELHAUS am Gendarmenmarkt hieß, wo der Herr Gründgens mit Dame Hoppe den Nazis ein Feigenblatt umhäkelte. So taumelten wir durch die ZU große, wenngleich ungemein beeindruckende – eben «erschöpfende» im Doppelsinn des Wortes – Afrika-Ausstellung voll ihrer Wundermären und Fabelwesen – – – um nexten Tags in einer wiederum enormen, wohl EINTAUSEND Stück umfassenden Ausstellung zu landen, die ein Herr Cortiz (Erbe des Platinkönigs von Bolivien) zusammengerafft hat, unvorstellbare Reichtümer in PRIVATBESITZ.
Kampen, den 25. April
Wachsende Unruhe wegen Heine. Jedenfalls bis gestern hatte ich das Gefühl, ich schaffe das Buch nicht. Erst seit heute nachmittag – plötzlich herausfindend, daß ich nicht JEDE Zeile lesen muß, jedes Vor- oder Nachwort oder jedes Artikelchen – werde ich ruhiger.
Nachzutragen sind zwei Abende, die zu notieren ich nicht die Stimmung fand – weil mich SOFORT auf Heine stürzend –: ein Abend beim alten Gerd Schneider in Berlin, der (der Abend) doppelt seltsam war: zum einen ein stumpfes Strindbergshausen, Krach schon beim «Du kannst eben nicht mal Wein in den Eisschrank stellen», zum anderen doch aufregend, wie die Menschen «dort», im alten Ostberlin (und d. h. im ganzen Osten), in einer vollkommen eigenen Welt leben, alle Bezüge, alle Assoziationen, aller Klatsch bezieht sich STETS und NUR auf alte DDR-Zusammenhänge, auf Themen wie Revolution, Verrat, Geheimdienste, Macht, Kriecherei – ob das nun jüngste «Aktualitäten» sind wie der IM Fries oder Mademoiselle Maron oder Kunert, der angesichts der Tatsache, daß er bis 1968 (?) in der SED war, ein wenig ZU schrill proklamiert, wie böse
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