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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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die SED war und wie man denn nur … Es gab, was ich bisher nicht wußte, sogar Selbstmorde in der Ex-DDR, weil Menschen mit alldem nicht mehr fertig wurden; ein Ex-Kommilitone, nicht mal ganz unbegabt und lange mit dem BE verbandelt, Achim, hat z. B. jegliche Nahrung verweigert, bis er tot war.
    Themen über Themen. «Schreiben müßte man können …» Ein so ganz anderer, überraschend angenehmer Abend dann gleich nach Rückkehr aus Berlin: bei mir zu Gast das Ehepaar Nevermann, beide gebildet, auf unstörrische Weise widersprechend (was ich sympathisch finde, wenn’s begründet ist), er komisch-distanziert von der weiland-Affäre seines Vaters erzählend, der als Hamburger Oberbürgermeister nicht die besuchende Queen begrüßen durfte, weil er mit Geliebter lebte (ob der Sohn zu der noch Kontakt hat, die seine Mutter verdrängte?). Dazu Gisela Augstein und ihr lustig-robuster «Herr Doktor», der je kräftiger, wacher und lauter wurde, desto später der Abend und desto mehr Flaschen er sich selber aufgezogen hatte, verbunden mit dem Griff nach meinen Davidoffs; und dazu die Witwe des – auch 70! – kürzlich verstorbenen Psychiaters Meyer, die – eine so kluge wie tapfere Lösung – nach dem Tod ihres Mannes für 3 Monate in ein Kloster gegangen war und beeindruckend davon erzählte. Schon bemerkenswert, wie wir Weltenkinder immer dann, wenn uns der Arsch auf Grundeis geht, zu den anderen, denen mit Häubchen oder Tonsur und mit Glauben, flüchten. Erst tänzeln wir ein Leben lang durchs Leben – und dann, husch, Unterschlupf bei Menschen, von denen wir vorher nie Notiz nahmen.
    Die Gäste gingen um 2 Uhr nachts.
    Kampen, den 27. April
    DIE ZEIT ist verkauft! Ein Schock. 7 Monate nach dem Tod des Gründers – also nicht einmal die «Witwen-Schamfrist» einhaltend – ist die stolzeste, unabhängigste Redaktion (denn eine Zeitung IST die Redaktion, nichts anderes – es gibt da keinen Besitz, keine Häuser, nichts: Eine Zeitung kann man unter wenigen Hüten aus dem Hause tragen – – – oder eben verkaufen) bei Nacht und Nebel verscherbelt worden. Übrigens ohne irgendeinen Protest – kein Helmut Schmidt, keine Dönhoff: Sie starren eben auch wie jeder kleine Angestellte auf den monatlichen Lohnstreifen (beide vermögende Leute!) und kneifen ihren harten kleinen gräflichen Arsch zusammen.
    Schwer zu definieren, was sich an «Charme» ändern wird – es ist ja ein spezifisches Parfum, das DIE ZEIT hat oder ausmacht – die winzigen Bürozimmer ohne Knautschledergarnitur und Kendzia-Palmen (die Dönhoff ohne Vorzimmer, einfach der kleine Raum mit Winz-Sofa!) oder der 90jährige René Drommert, der vor 60 Jahren mal irgendeine Funktion hatte und dem man ein Bürozimmer gelassen hat mit Dutzenden von russischen Zeitungsabos, Prawda und Iswestija und Novyj mir und Literaturnaja Gazeta – nie mit einer Zeile «ausgewertet» oder zitiert, alles zusammen pro Jahr gewiß eine beträchtliche Summe kostend; wie auch des alten Leo Büro, wo er wie seit Jahrzehnten seinen Orangensaft für den Gin preßt (früher: pressen ließ).
    All das – selbst, wenn’s Äußerlichkeiten sind – wird jetzt gewiß weggebürstet mit einer Konzern-Stahl-Bürste; für den jämmerlichen Preis von DM 150 MILLIONEN, während Gründer/Besitzer Bucerius 1 ½ MILLIARDEN hinterließ, die in einer Stiftung eingefroren sind, die alles darf auf der Welt, vermutlich blinden Inderinnen beim Teppichweben helfen, nur eines auf keinen Fall darf, qua Satzung: der ZEIT helfen. Er hat das eigene Kind ermordet, in Eis gestellt und behaglich erfrieren lassen. Heiliger Freud.
    1. Mai
    (Das Datum, zu dem ich als Student die Demonstration floh, bei der das GERMANISCHE (!!) INSTITUT geschlossen an Ulbricht vorbeiziehen mußte; ich hingegen sauste zum Kudamm und löffelte Riesen-Eis-Becher in mich hinein. Das war MEINE Demonstration.)
    Gestern einigermaßen bemerkenswerter Abend mit Felix Schmidt und 2 seiner Jung-Redakteure; bemerkenswert insofern, alldieweil deutlich, daß ich für die – die vor mir aufstanden, als ich an den Tisch trat; früher hätten sie die Hacken zusammengeklappt – Urgestein war, «Sie und Hans Mayer». Das ist für sie vollkommen dasselbe.
    Sie wollen für ARTE einen Film zum Thema HOMOSEXUALITÄT UND LITERATUR machen, und ich soll als eine Mischung aus «Fräulein-Nummer», Zeitzeuge (!) und Experte die analytisch-interpretatorischen Zwischentexte formulieren, mit denen «Takes» über Oscar Wilde (daher «Zeitzeuge»

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