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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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im Auge – als könnten sie sehen, gar etwas tun, wenn da einer eine Pistole zöge. Wäre ja auch ein schöner Tod: auf der Bühne als Gratulant zum 70. von Grass).
    Komisch dann die ungelenke Bravheit, dieses Deutsch-Biedere: Christa Wolf, die stimmlos als Muttchen ein paar Gedichte des Jubilars aufsagte; Rühmkorf, der mit bei vielen Auftritten geübter Komödianten-Geste ein «politisches» Gedicht aufsagte, ein Majakowski der Primanerzeitungslyrik, die gegen Kapital, Zinsen und Gewinne protestierte – alles, was er hat und wovon ER profitiert.
    Beeindruckend dann der 90jährige Hans Mayer, der zwar sitzen mußte und (gräßliches Schicksal für einen Textverschlinger) kaum noch sehen kann, aber 20 Minuten ohne Manuskript und druckreif sprach; wie der neue PENpräses Conrady hinterher zu mir sagte: «Auffallend, wie selten er ICH gesagt hat.» Oft genug war’s schon – und wieso er nun eine Parallele zu Heine zog respektive «schlug» (so schrecklich jüdisch ist Grass ja nun nicht) – das war wohl nur, um seinen ewigen Satz «ein europäisches Ereignis und ein deutscher Skandal» loszuwerden (den er auch, einziger Verhaspler, umdrehte).
    Zuzugeben ist aber: DAS schafft kein deutscher Gegenwartsschriftsteller, diese Aufmerksamkeit, sintemalen ja die Weihefestspiele nun zwischen Lübeck und Göttingen, ARTE und ZDF und ARD eine Woche lang weitergehen.
    Interessant auch mein kleiner Streit mit Rushdie, der auf meine kritischen Bemerkungen zu Grass’ letztem Roman (da ALLE meine ZEITartikel gelesen hatten, und die, die ihn nicht lesen konnten, wie Rushdie oder Gordimer, hatten sich berichten lassen) sagte: «Jeder Roman über 700 Seiten ist mißglückt.» Auf mein spontanes «Ein rasches Urteil über Proust, Tolstoi und Thomas Mann» lächelte er nur. Habe mit ihm verabredet, nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe von EIN WEITES FELD mit ihm darüber zu diskutieren.
    Beim anschließenden Empfang das sogenannte «tout Hambourg» . Kein Wort mit Christa Wolf, dünnlippige Begrüßung mit Lafontaine und überraschend angenehmer Eindruck vom neuen Stadtkommandanten, Runde oder Runge oder so ähnlich; wirkt humorvoll, verschmitzt und unverkrampft. Wird mal zum Essen eingeladen.
    18. Oktober
    Zögerlicher Nachtrag zu den Staats-Akt-ähnlichen Grass-Feiern, die mir dann – alles summierend – doch leicht übertrieben schienen. Aber: Entgeistert war ich von der kunstgewerblich verhakelten und zugleich mit tausend Bedeutungswimpeln abgesteckten Verfilmung der RÄTTIN, die bemühte Bilder-Fibel von Erstsemestern einer Filmhochschule. NIE hätte so was einen Abnehmer, einen Zahler, einen Sender, einen Regisseur, einen Produzenten gefunden, stünde dahinter nicht der Name Günter Grass.
    Das ist eines der Rätsel, dieser Zwiespalt zwischen Person und Werk. Einerseits, natürlich, wird man als Schriftsteller nicht berühmt, wenn man kein Werk hat und wenn an dem Werk nichts ist. Andererseits (mit einer solchen Andeutung endet auch Kaisers Geburtstagseloge) hat das Werk doch SEHR viele Defekte, läßt durchaus die Frage zu respektive offen, ob es denn wirklich ein zuchtvoller Kunstbau oder nicht doch nur ein Kraftakt und Temperamentsausbruch ist.
    Also die öffentliche Person. Die ist Grass ja tatsächlich geworden, und egal, ob man – wie die Rechten – gegen ihn oder ob man – wie viele Linke, so etwa auf dem Empfang der ziemlich schleimige Lafontaine – für ihn ist: Er ist DA, man kommt um ihn nicht herum, eine seltsame Art Rocher de Bronze, eine mal liebenswerte, mal starrköpfige, mal rechthaberische und mal empfindsame öffentliche Figur. Dabei ohne die «Würde», aber ohne das Steifleinene eines Thomas Mann. Schon ein ganz eigenes Gewächs.
    Hotel Los Jameos Playa, Lanzarote, den 30. Oktober
    Nun sitze ich jammerlappig seit 14 Tagen in der Sonne, worum mich viele beneiden – und beklage mich; das alte Lied: das für mich perfekte Klima, Meer, Pool – alles für mich perfekt –, aber ich klage: Tatsächlich ist das «freizeitgekleidete» Publikum, Tankstellenpächter, Schraubengeschäftbesitzer und Vorstadtfriseure, kaum zu ertragen, ich habe gar nicht gewußt, wie viele Menschen schlichtweg nicht in der Lage sind, mit Messer und Gabel zu essen.
    So ist der salzhaltige Atlantik mir versalzen durch die «Waschen und Legen»-Vulgarität der Leute – und durch die vollständige Genußlosigkeit (wohl der Klientel entsprechend) des Lebens hier – vom Schinken zum Senf zum Fisch: alles drittklassig

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