Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Wapnewski darf überhaupt nicht vorkommen: «Der hält die große Heine-Rede? Da fällt einem nur ein, was einem immer bei Wapnewski einfällt – wieso eigentlich?»
Ich glaube, das vollständige Abhandensein einer menschlichen Dimension hat diesen geradezu panisch intelligenten Mann gehindert, ein bedeutender Mann zu werden.
Menschen sind für ihn Leute.
Hotel Holiday Inn, Ettlingen, den 12. November
2 Pe-Esse noch zu Mayer:
Er hat die Flüchtigkeit des Zirkus-Zauberers, statt eines Kaninchens im Zylinder sein exzellentes Gedächtnis im Orkus verschwinden zu lassen – wenn es dem Zurechtschminken der eigenen Vita hilft. So wußte/weiß er genau, daß wir uns – «Da waren Sie der Kaffeeholer» – bereits 1947 im Verlag «Volk und Welt» kennenlernten, weil das so eine schöne runde 50 ergibt; er verdrängt dabei – wohl wissend: «Sie sind jetzt 66» –, daß ich da 16 Jahre alt war, also noch zur Schule ging (ich machte 1949 Abitur!), und daß er, wenn ich nicht irre, 1947 noch in Frankfurt/Main lebte.
Ebenso fabelt er sich die hübsche Geschichte zurecht: «Sie wissen: Meine Intervention bei Helmut Schmidt hat Sie gerettet.» Wahr daran ist, daß er – im Gegensatz zu vielen öffentlichen Protesten vieler Autoren – lauthals die Klappe hielt, angeblich einen Brief an Helmut Schmidt geschrieben hat, «den ich Ihnen aber nicht zeige». Wahr ist auch, daß ich nicht «gerettet» wurde (als Feuilletonchef) und daß mit Sicherheit der gräßliche Schmidt, der mich noch kürzlich in seinen Memoiren einen «elitären Intellektuellen» schalt, sich mit keinem Wort für mich verwandt haben wird.
Hotel Sorat, Erfurt, den 12. November
Im schönen, leider total verregneten Erfurt gelandet – hier war ich einst mit 15 Jahren!!, auf Liebesreise mit Jochen Mund, wir bettelten auf der Straße eine Frau um einen Apfel an und holten uns mit ZK-SED-Ausweis bei der CDU (!!, die war hier mächtig) Gutscheine fürs Essen in einer «Speise-Gaststätte». Jetzt, 50 Jahre später, pflücke ich hier – der Lebensbaum hat 21 Bücher-Ringe, und viele haben angesetzt – die 1000-Mark-Scheine von den Bäumen – – –. Alles auch eine Reise in die Vergangenheit – Bonn neulich: Da war ich einmal glücklich, es machte mir nichts, daß Bernd in einem Zimmerchen wohnte, in dem es ein Waschbecken gab – erst wurde der Salat und später … gewaschen. Er hatte nix, ein kleines Stipendium – ich hatte wenig, es war die Vor-ZEIT-Zeit, ich war «freier Autor», der Marx war gerade erschienen, und ich mußte beim WDR-Fernsehen tingeln, damit ich den Flug nach Köln/Bonn bezahlt bekam. Aber wir trieben es bereits auf der Autobahn, wenn er mich in Köln abholte, die Geduld reichte die 30 Minuten nicht.
Und nun sitzt hier ein abgenutzter, «berühmter», wohlhabender alter Mann, der resigniert in die Hotel-Sauna geht, bevor er vor ein paar Leuten «auftritt». O tempora …
Hotel Gebhards, Göttingen, den 20. November
Keineswegs ein Trost, daß sich im Gästebuch Grass und Walser, Kempowski und Wickert, Rita Süssmuth und Kardinal Ratzinger verewigt haben: Es bleibt, daß man in einem Vertreter-Hotel sitzt mit Glaskachelwand im Zimmer (also nicht zu verdunkeln) und Whirlpool, zu dem man über den Parkplatz gelangt …
Schmähliches Gewerbe, diese Lese-Reisen; diesmal beim «kleinen Türken» abends gelandet, un-eatable . Wenigstens mit Guntram Vesper, freundlich wie immer – aber brennt nicht. Selbst der offenbar untergegangene Sohn, von dem er nicht weiß, was er – in Göttingen – studiert, ob er trinkt, drogiert ist, Weibergeschichten hat, wird fatalistisch als «Schicksal» genommen.
Möglich, daß mir meine Bahn-Lektüre das so auffällig machte; die Briefe von und an Hans Werner Richter – die mir mich vorführten in so unglaublich vielen, energischen Aktivitäten (an die ich mich zumeist gar nicht mehr erinnere), daß mir beim Lesen schwindelig wurde und sich mir Ledigs Wort «Sie sind eine Kerze, die an beiden Enden brennt» ins Gedächtnis drängte: Notstands-Kongresse und Resolutionen mit Enzensberger oder Walser, Tagungen mit Willy Brandt, Buchpläne mit Richter, Interventionen bei Gruppe-47-Tagungen, Korrespondenz, Bücher mit Fichte oder Cohn-Bendit, Interpellationen bei Ulbricht, Demonstrationen gegen Springer, Habilitation bei Mayer – quel vie ! Aber auch der generelle Eindruck: In diesen 60er, 70er Jahren waren die Schriftsteller Teil der Gesellschaft, und sei es qua Opposition; sie bildeten ein Netz
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