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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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(das Richter kunstvoll knüpfte), auch wenn Hildesheimer gegen X, Koeppen für Y und Böll gegen die SPD und alle zusammen gegen den verabscheuten Ranicki tobten.
    Was bleibt davon? Ich las den Band wie einen Kultur-Krimi, fast vergaß ich, in Göttingen auszusteigen.
    Dieses «Was bleibt davon»-Gefühl verzerrte sich ins Surreale bei der Lesung vorgestern in der Lübecker Stadtbibliothek – klosterähnliche, herrlich restaurierte Räume, unter deren gotischen Rippenbögen jahrhundertealte Pergament-Folianten schlummern, die mächtigen Wände schön polsternd. «Nein, benutzen darf die selbstverständlich niemand», sagte geradezu empört der Direktor. Bücher, die man nicht einmal in die Hand nehmen darf! Wozu dann? Kulturgut?
    Hotel Maritim, Nürnberg, den 23. November
    Zurück also von der Lesereise-Malaise.
    Allenfalls die Nürnberger Abschluß-Pointe ist lustig: Ich saß, nachdem ich auf «Endlich mal ein deutsches Restaurant, ich kann die kleinen Italiener, Türken, Griechen nicht mehr ertragen» bestanden hatte, bei den obligaten Würstchen mit Sauerkraut zusammen mit dem Graphiker Prechtl und fragte den höflicherweise, woran er denn so arbeite. «An einem Titelblatt für den SPIEGEL»; und weil meine Synapsen, trotz Ermüdung und Verdrießlichkeit, immer schnell sind, sagte ich: «Aha – wann kommt der Courier des Zaren, um Ihre Heine-Zeichnung abzuholen, die den Angriff von Herrn Augstein auf mich zieren wird?» «Morgen früh.»
    Hotel Adlon, Berlin, den 2. Dezember
    Schockierende historische Überlappung dieser Stadt: Bin im hochluxuriösen Hotel direkt neben der (damals sowjetischen) russischen Botschaft, in der DDR-Zeit Machtzentrum des Zaren, Zitter-Haus der Okkupations-Macht, die wahre Regierung des Landes; jetzt können sie den Strom für die Außenbeleuchtung nicht mehr bezahlen …
    Und in der Wilhelmstraße, wo mickrige Schautäfelchen an Reichskanzlei, Außenministerium usw. der Kaiser-Bismarck-Weimar-Zeit erinnern, nun ein Küchenmöbelgeschäft und ein «Ristorante Porta Brandenburgo» –.
    Dafür die Linden, die Friedrichstraße, der Gendarmen-Markt von erschlagendem Pomp, mal häßlich, mal gelungen, im ganzen ein hochelegantes Regierungs-Zentrum, das seinesgleichen sucht in der Welt – als architektonisches Ensemble wie im Luxus der Läden, Passagen, arrangierten Plätze, Restaurants. Die Champs-Élysées eine verkommene Provinz-Avenue und der Ku-Damm eine abgeblätterte Schöne, Boulevard der Kläglichkeit. In 10 Jahren wird dieses alte Berliner Zentrum hochherrschaftlich, gediegen und elegant sein, der Westen Berlins dann der Puff für die Diplomaten.
    Noch zerstampft und zermürbt vom Horror- und Raritätencabinett namens Berlin; das dann übrigens doch NICHT EINE architektonische Besonderheit bietet – die vertane Chance einer bauplanerischen Stunde Null, die man ver-nutzt hat zu Travertinpomp und falscher Proportion, mit der man einen der schönsten Plätze der Welt, den Gendarmen-Markt, zugeklotzt hat. Die Berliner hatten nie Geschmack und Stil-Gefühl; die paar, die es hatten – haben sie ermordet: Juden.
    10. Dezember
    Altherrenklage auf der Straße vorm Pressehaus. Nicht ohne Komik, wie ein paar Grauhaarige (wenn überhaupt noch Haare) im Nieselregen die schlapp hängenden Köpfe zusammenstecken und über die ZEITläufe klagen: Herbort, Manfred Sack, Michaelis und ich. Die Verträge von Herbort und Sack sind nicht verlängert worden, man hat sie – rüde, wie der Ton dort geworden ist – gebeten, ihre Zimmer doch möglichst rasch zu räumen, und hat auch für ihre Ressorts (Musik respektive Architektur) keine Nachfolger bestellt.
    Kam mir insofern etwas deplaziert vor in der Runde, alldieweil ich stracks von einer Besprechung kam, in der es um eine Kolumne von mir ging: «Denn wir haben im ganzen Ressort keine Feder wie die Ihre.»
    Eigentlich ein Grund zum Feiern, wie ich im Hause «gefragt» bin, wie mein «Sturz» völlig am Autor FJR vorübergegangen ist, wie man sich «bewirbt» – jaja, das Gekakel darüber auf diesen Seiten ist auch gleich jener Thomas Mann’schen Eitelkeit, der beruhigt feststellt auf einer Ozean-Riesen-Reise: «Der Steward hat mich erkannt.» Die Stewards der ZEIT «erkennen» mich also. Auch schon was.
    Kampen, den 19. Dezember
    Vor einigen Tagen einen Zusammenschnitt alter DDR-Wochenschauen gesehen: ekelhaft die seifige Mischung aus Lüge, Anbiederei, Jauchzen und Befehl. Was machen diese schunkelseligen Schlager-Kapos eigentlich JETZT?

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