Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Juni
Bizarrerien-Lese. Vorgestern Besuch bei Grass, dem ich einen Vorabdruck in/zu einem GRASS SPECIAL im neuen Teil der ZEIT verholfen habe; verabredet war – als eine Art «trailer» – ein Interview, das Chefredakteur de Weck gemeinsam mit mir führen wollte. Ich hatte über die diversen Sekretariate dort in der «Oberetage» mitgeteilt, daß man a. sich um ein Tonband/einen Stenographen kümmern müsse, b. ich gern alleine führe (weil ich mich nicht verplappern mag vor so einem Gespräch).
1 Tag vorher Anruf de Weck: «Wir fahren doch zusammen, nicht wahr?» – und an das Tonband hatte er nicht gedacht. Er habe im Wagen etwas mit mir zu besprechen. Also: fuhr ICH! Und es ging wieder mal ums Feuilleton, daß er nun endgültig die Dame Löffler loswerden wolle, die das wüßte, beleidigt in Urlaub gefahren sei usw.
Ankunft in Behlendorf: «Ach, Sie denken aber auch an alles», als ich meine Blumen für Ute Grass aus dem Kofferraum holte. Dann nahm er Platz, mehr mein Sekretär als der Chef, bediente das Tonband – – – und ließ MICH das Gespräch führen. Er nahm in 1 ½ Stunden mit 2 Fragen daran teil: «Leben Sie gerne in diesem Jahrhundert?» und «Wie denken Sie über den Tod?»
Große Schwierigkeit, das zu redigieren, weil ja nicht immer FJR/Grass in der gedruckten Fassung stehen kann und nur 2 x «de Weck». Redigieren außerdem mußte ich – weil der Chef vergessen hatte, Termine mit dem Autor abzusprechen, wann wer wie das Manuskript ihm zum OK schickt. Die Journalistenhochnäsigkeit: «Wir faxen Ihnen dann …»; aber Grass HAT gar kein Fax. Und: «Sie zeichnen uns dann für die Aufschlagseite» – aber Grass DENKT gar nicht daran, «im Auftrag» zu zeichnen. Wurde nur durch irgendeine witzig-pampige Intervention von mir à la «Stell’ dich nicht an!» gerettet.
Heimkehr gegen 23 Uhr (er fuhr meinen Wagen zurück): Da kam die Katze aus dem Sack: «Bitte übernehmen Sie doch wieder das Feuilleton!» Bestärkt in diesem Überfall gewiß durch freundliche Grass-Huldigungen beim Behlendorf-typischen Abendessen, Linsensuppe mit EFHA-Würstchen aus der Büchse und Thomy-Senf im Kaufhaus-Glas, Fritz sei eben eine Legende und: «Suchen Sie doch nicht lange, HIER SITZT doch der beste Feuilleton-Chef!» usw.
Nur: Keiner, auch Günter nicht, noch weniger de Weck, wollen oder können begreifen, daß ich das nicht mehr KANN, daß ich inzwischen eine Wunderkerze bin: sehr schnell, sehr hell und zischend, aber ebenso rasch VERzischend. EINEN Abend «brillant sein» ist einfach – – – 7 Tage Sitzungen, Anteilnahme, Neugier, Phantasie, Leidenschaft, «Brillanz» – – – nicht mehr möglich.
Was soll mir das – vermutlich viele – Geld in meinem Alter, wozu und für wann und wen soll ich’s aufheben, mich in einem 10-Stunden-Job vernutzen, um ein mickriges «Remake» hinzulegen, mir gar das ersehnte schöne Haus mit Pool in der Provence kaufen – – – in dem ich dann nie sein kann und nach 5 noch weiteren Jahren im Rollstuhl umherfahre? Alles Unsinn.
Doch der merkwürdige Chefredakteur, ein bescheidenfreundlicher Mann – – – – – – schickt mir nexten Tags zwecks Redigierens die Interview-Abschrift; im Couvert: eine Flasche feiner Essig, eine Büchse Paté, ein Glas Cérises Noires. Lieb, rührend und hilflos.
Wie um 180° so anders mein Freund Wunderlich, bei dem gestern abend zum wie stets fabulösen Dinner, Hummer mit dem neu erworbenen Jensen-Besteck und Gang nach Gang und erlesene Weine und Esprit – – – – – – und das immer wieder neu verblüffende Vorführen seiner Wonne an Künstlichkeit wie Kunstvollem: hatte von einer Straßenbrücke die Gay-Parade in der City beobachtet, die geschminkten, kostümierten, aufgedrehten Schwulen und Lesben; genießend wie neulich hier meine KUNSTblumen: Nach einem kurzen, eher gelangweilt-angeekelten Gang durch meinen blühenden Garten (nur ein Blatt, das er abriß, erregte seine Aufmerksamkeit, weil er diese Äderung und den «Bau» des Blattes prüfen wollte) bemerkte er beim Weggehen, daß die Blumen im TREPPENHAUS künstlich sind (allerdings sehr echt aussehende italienische Falsifikate) – – – DAS gefiel ihm, lobte er, bewunderte er.
Kampen, den 23. Juni
Sylt-übliche Wellentäler vor der Brandung: «Jeder Mensch hat eine Art Angst-Knopf, wenn man den drückt …», so ähnlich sagte mir kürzlich Arthur Miller in unserem Gespräch; ich habe vor allem einen «Nerven-Knopf», wenn man den drückt … Seit dem
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