Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
direkt sagen: «Also, das essen wir selbstverständlich nicht!»
Gibt es einen jüdischen Phänotyp? Die Ohrläppchen, die Finger, die Art, mit seinem jungen Gast zu flirten, aber zugleich «huldvoll» zu sein, alles dasselbe, nur jünger. Gespenstisch.
Ergänzend dazu die sonderbare Beobachtung, daß man IMMER Deutsche erkennt, an der Art, sich zu bewegen, sich zu kleiden, wie sie sitzen, sogar, wie sie kauen. So, wie man Amerikaner erkennt, und nicht nur am senkrecht gespießten Messer in der linken und der Gabel in der rechten Hand und an der «Chicken und Coca-Cola»-Bestellung im 2-Sterne-Restaurant. Es sind «andere Menschen».
Kampen, den 30. September
Nobelpreis für Grass. Gerecht und gegönnt. Telegramm. Bei der Telegrammaufnahme sagte ein – offenbar nicht unbelesener – junger Mann: «Na, das wird ja ’n heißer Tag – Sie sind Nummer 3 nach dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler!»
Spiegelverkehrt zum Grass-Jubel und seiner «Krönung» meine Paristage: Ein Pariser Verleger, der vor ca. EINEM Jahr Kontakt mit mir aufgenommen hatte, er wolle meine früheren Bücher neu, den 3. Band der Romantrilogie erstmals und die Heine-Biographie in Paris verlegen – – – bot mir nicht mal 1 Glas Wasser an (was er Günter nun wohl anböte?). Er hatte deutlich die von mir ordentlich zugeschickten Bücher – plus ein Dossier der französischen Kritiken über die ersten beiden Prosaarbeiten – nie auch nur in der Hand gehabt.
PS zu Grass: Nun die schön geschminkten Lügen mit der neuen Krone. «Ich habe nie auf den Nobelpreis gewartet», wiederholt er auf allen Sendern. Aber als er EIN WEITES FELD fertig hatte, sagte er wörtlich zu Inge Feltrinelli: «Dies ist mein Nobel-Preis-Buch.» Er wollte ihn immer. Zu Recht, aber er WOLLTE ihn. À la Thomas Mann, der sinngemäß sagte: «Mein Leben war auf den Nobelpreis ausgerichtet», was meinte, er gebührte ihm gleichsam naturrechtlich.
PS zu meinem etwas dünnen und kurzen Grass-Artikel wegen Nobelpreis: Eigentlich wäre das die Gelegenheit gewesen, auf das so wichtige wie ungute Spannungsverhältnis Kunst: Politik intensiver einzugehen und es nicht mit einem Schlenker abzutun. Das wurde mir am Abend, an dem das Manuskript druckte, ich also nix mehr nachtragen konnte, besonders deutlich.
8. Oktober
Es geschehen noch Zeichen und Wunder: Grass ruft an und bedankt sich für meinen Artikel.
Der – geradezu angeekelt – in der gestrigen «Blattkritik» der ZEIT mit keinem Wort erwähnt wurde.
Die innere Uhr – darf man sagen: Seele – dieser Zeitung ist kaputt, kaum einer der Redakteure denkt an das Ganze, jeder nur an «seinen» Auftritt qua Artikel oder sonstwie; Egomanen sind alle Schreiberlinge (ich natürlich nicht …), aber ein Redakteur ist eben nicht nur Schreiber.
14. Oktober
Grass-Lesung am Sonntag im THALIA, Menschenschlangen wie bei einem Popstar, die vom ausverkauften Haus abgewiesen werden mußten. Drinnen Ovationen, das Publikum stand auf! Als käme ein Heilsbringer. Unangenehmes Gefühl: Die Deutschen lieben ihren/einen Führer – die verzückten Gesichter der jungen Mädchen, das sofortige Gelächter bei jedem schalen Witz: Mit Literatur hat das alles nix mehr zu tun, es ist Heils- und Erlösungserwartung, und ich bin SICHER, daß selbst die 700 (!!) Exemplare, die er signierte, nicht gelesen werden.
Hinterher Essen «im kleinen Kreis», in Wahrheit also das Nobelpreis-«Déjeuner»: etwas Salat, ein paar Nudeln, 2 Glas Wein beim Italiener. ZAHLEN tat nicht der nun noch reichere Mann – er ließ den THALIA-Chef zahlen.
Dahrendorf zu Haug von Kuenheim: «Das Raddatz-Kapitel in meiner Bucerius-Biographie ist das schwerste Kapitel.»
Wieso?
22. Oktober
ZEIT und kein Ende: Nun weiß ich also, daß Bucerius mich «geliebt» hat, wohl ähnlich wie Ledig: Beide schmissen mich vor lauter Liebe raus.
Brief auf ZEIT-Papier an Ralf Dahrendorf
Lord Ralf Dahrendorf
c/o Bank Gesellschaft Berlin UK
1 Crown Court
Cheap Side
London EC 2V 6 JP
25. Oktober 1999
Euer Lordschaft,
lieber Herr Dahrendorf –
haben Sie Dank für die liebenswürdig-elegante Geste, mir den kleinen FJR-Abschnitt Ihrer gewiß hochinteressanten Gerd-Bucerius-Biographie vor Drucklegung zur Kenntnis zu geben.
Es war alles so – und es war alles ganz anders.
Beginnen wir mit dem Ende: Der Goethe-Schnitzer, ein Flüchtigkeitsfehler, wäre bei keinem anderen ZEITredakteur so gnadenlos geahndet worden: ein Artikel, nachts eilendst von Chefredakteur Sommer
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