Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ihm – ungerechterweise? – auch oft in Frage gestellt hatte) ist, so praktiziert, dann doch eine große Sache. Ich wünsche nur, daß es nun schnell geht, er nicht mehr durch die letzte Etappe der grausigen Schmerzen hindurchmuß. Er hatte sogar noch die Kraft, nach Gerd zu fragen und zu meinem Satz «Ich hoffe, es geht weiter gut und wir bleiben zusammen» zu sagen: «Ich bete täglich für euch beide.» Ob das gar kitschig klingt, wenn ich’s hier so aufschreibe, weiß ich nicht – es war tief berührend.
30. Oktober
Jochen ist tot.
Gestern abend, 18 Uhr, als ich mit der Stützner hier beim Diktat saß – und über die sterbende Mary sprach. Und da ja nichts in meinem Leben ohne «Pointen» ist, kam 1 Minute vor dem Anruf, der mir den Tod mitteilte, Ruthchens Sohn David, ihr ältester Sohn – – – also der, der gerade «mein» Sohn sein könnte (ich weiß nicht einmal, warum er kam), er lud sich ein, und ich wollte ihretwegen nicht unhöflich sein; mußte ihn natürlich nach 5 Minuten rauswerfen.
Nun habe ich’s so lange gewußt – und doch ist der Schreck, die Traurigkeit ganz tief. Heute hier ein so strahlender Herbsttag – und er wird nie mehr eine Farbe, die Sonne, den Himmel sehen. Auf meinem Schreibtisch noch die herausgerissenen Briefmarken, die ich immer für seine Sekretärin sammelte – flogen in den Papierkorb; schreckliche kleine Geste.
Es gibt lauter schneidende Ecken (der Erinnerung?), ob ich nun die Kliniktelefon-Nummer wegwerfe oder die alten Fotos hervorkrame, auf denen ein junger, strahlender Mann zu sehen ist, glücklich. Da hilft auch der sogenannte «schöne Tod» nicht, den er wohl hatte: das langsame Verlöschen, die Schmerzen durch viel Morphium erträglich, die Familie um ihn herum, selbst als er’s nicht mehr im Kopf wahrnahm, wird er’s gespürt haben, Gitta und die Tochter (die auch die letzte Nacht bei ihm blieb und ihm schließlich die Augen schloß).
Ein Mäander von «Zufällen» – aber vielleicht gibt es garkeine Zufälle? –; daß Gitta ihm tatsächlich meine Rose, mit der ich zum Schluß sein Gesicht streichelte, in die Hand gab; oder das Definitive: daß er eine knappe halbe Stunde nachdem ich das Zimmer verlassen hatte, endgültig «abbaute», wie Gitta sagte, sich minütlich vollkommen veränderte, weg war – abgeschlossen. Unser Abschied war sein Ende.
Es war eine große Beziehung, etwas ganz, ganz Seltenes im Leben, und FÜR ein Leben, sie währte durch so viele Furchen und Fluten hindurch UND war sogar in die sogenannte Familie eingebaut. Daß ich da nie mehr anrufen kann …
Man weint ja immer um sich selber, der Tote weiß davon nichts mehr und «hat nichts davon».
1. November
Eben – auch so anders können Menschen sein – ein stummer Blumengruß von Paul.
München, den 4. November
Jochens Beerdigung. Ein Riß durch meine Existenz: In diesem Sarg also lag/liegt der Rest jenes Menschen, neben, in, bei dem ich als junger Mensch so oft glücklich lag.
Und wer kam, «mich zu trösten»? Ruth aus Berlin, die meine Frau wäre, hätte er’s nicht verhindert. In einer Reihe als weinende Trauergäste sitzen: die Frau, die er nicht liebte und die ihn wie eine Heilige pflegte; der lover , der offiziell sein Pflegesohn war; daneben der zweite Pflegesohn und die einzige Tochter, zu der er eine echte Beziehung erst spät im Leben entwickelte und die ihn emotional eher störte, als sie geboren wurde – denn da war ich das Zentrum seines Lebens.
Als ich am Grab mein (sehr schönes) riesiges weißes Rosenkissen mit dem Wort «Fritz» liegen sah – schmiß ich es dem Sarg hinterher. Es gehörte zu ihm, auf ihn, nicht oben über ihn. Und griff mit den Händen – nicht dieser gräßlichen Schaufel – die Erde, warf 3 große Hände voll schwarzer Erde auf das rosenweiße Seidenkissen – und meinen Namen. Ich verstehe, daß man Toten etwas mitgeben will.
Gestern vormittag – was für eine Woche! Denn morgen abend ist die Totenfeier für Fichte – bei der sterbenden Mary. Tief bewegt, dieses zuckende Vögel’chen mit schlaff hängenden Krallen: Das ist der Rest dieser so kämpferisch-energischen kräftigen Frau, die ihr Leben lang kommandierte: «Irene, mach, Irene, tu, Irene, geh!»
Das muß sie noch vor kurzem, als diese arme Schwägerin, ihre ehemalige Haushälterin, sie besuchte, getan haben: «Wieso hast du so schicke Kleider an», fragte sie zur Begrüßung, und: «Du kriegst kein Erbe, du stirbst ja bald.» Das «Erbe» beherrscht sie;
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