Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
kein Bernhard ohne ihn denkbar, wie er das eigentlich alles schon geschrieben … und wie eindringlich in der Literatur eben doch NUR das Private, das Persönliche, das subjektiv Erfahrbare respektive Teilbare, Übertragbare ist: Politik ist nach wenigen Jahren verstaubt, ihre Fragestellungen und Probleme veraltet. Fiel mir ja schon in Peter Weiss’ Tagebüchern auf – immer da, wo er eine (uralte) Debatte mit dem ‹Neuen Deutschland› austrägt, liest man drüber weg: Überall da, wo von IHM, seinen Nöten und Freunden (Tochter) oder sogar Absonderlichkeiten (Motorboot-Verbot auf dem See) die Rede ist, liest man’s gespannt.
Muß beim neuen Roman darauf achten! Nicht zuviel veritable Zeitgeschichte reinpacken! Die Zeit und ihre Geschichte muß durch das Schicksal der Personen leuchten, einleuchtend werden, nicht durch vom SPIEGEL abgeschriebne Fakten.
28. Oktober
Paris, das war nun endlich mal ein wirklicher, runder Erfolg. Die Presse in Frankreich STÜRZT sich geradezu auf KUHAUGE, man feiert es in den höchsten Tönen, stellt es neben die BLECHTROMMEL. Der französische Verlag stellte mir einen Wagen, übernahm sämtliche Hotelkosten, eine Sekretärin wurde extra mir zur Verfügung gestellt, da ein Lunch (mit dem dünnen, unscheinbaren und langweiligen Monsieur Flammarion) und da ein Galadiner (mit der herrlich-irren, ungewöhnlich häßlichen, dicken, trinkenden und rauchenden Literaturchefin, ein Weib wie ein Vulkan, ein Naturereignis – ich bin geradezu verliebt in so einen Menschen außer aller Ordnung in unserer Welt der Aktenkofferträger und flanellenen Klein-Angestellten).
Jedenfalls großer Respekt vor dem Romancier FJR, ich wurde nicht – wie hier – wie ein entlaufner Kritiker behandelt, der eine Privat-Ferkelei publiziert hat.
Jochens Tod. Noch lebt er, aber er stirbt Stück für Stück. Weil es so ungewiß ist, wie lange das überhaupt noch geht, buchte ich um und flog von Paris direkt nach München – auf diese Weise allerdings hatte ich von Paris NICHTS (nur Interviews), habe keine Straße, kein Museum, nix gesehen. Aber ich hätte mir nicht verziehen, da in der Coupole Austern zu fressen und deswegen mich nicht verabschieden zu können.
Es waren schreckliche, schöne, herzzerreißende 2 Tage. Jochen weiß, daß er stirbt, die großartige Gitta hat’s ihm – gegen den Rat der ewig lügenden Ärzte – gesagt.
Da lag der wohl doch wichtigste Mensch meines Lebens, ein ganz kleiner dünner, flüsternder Greis, der sich kaum noch selber bewegen kann. Eine Situation, so verquer, wie auch der «Romancier» FJR sie sich nicht ausdenken kann: Eben noch sagt er zu mir: «Ich habe nie jemanden so geliebt wie dich» – da kommt Gitta herein, und er WARTET auch, geradezu ungeduldig, drauf. Sie wiederum, wenn auch überanstrengt, BESITZT ihn jetzt, sie bestimmt, wer ihn sehen darf (und hat bereits ganz feste Pläne für ihr Leben danach). Fast möchte man sagen: Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie ihn ganz (er kann sich nicht mehr wehren, kann sich nicht entziehen). Zugleich ist es aber tief bewegend, wie die beiden Alten da zusammenwachsen, zusammengewachsen sind, sich ohne viele Worte verstehen. WIR waren die jähe Flamme – die beiden sind die dauernde Glut.
Und abends gingen «die Kinder» zusammen essen: seine Tochter, die aus USA herbeigeeilt war, ihr Mann, der andre Pflegesohn Rudi und dessen Frau.
Und da wiederholte sich en miniature dieselbe Scene: Ich knallte ziemlich durch und fing an zu flennen, irgendwie schaffte ich’s nicht mehr, der ständig Überlegene, Souveräne zu sein, und mir kam der Vorgang des Essens – während Jochen da liegt und von Geschwüren durchbohrt ist – auch widerlich vor. Als ich in meiner aufsteigenden Angst die Hand dieses Rudi, der neben mir saß, ergriff, wirklich nur so wie einen kleinen Anker – sah ich plötzlich, wie seine Frau seine andre Hand ergriffen hatte. Warnsignal und Besitz-Zeichen. Das Gebiet wird abgesteckt, wie der Löwe seinen Rayon einpinkelt – da darf kein andrer hin.
Schrecklich, sich so zu verabschieden – das hat man ja auch nicht gelernt. Man kann ja nicht mal «auf Wiedersehen» sagen. Man geht aus einem Zimmer und WEISS, man wird den Menschen nie mehr wiedersehen.
Als Jochen, der auch kaum noch reden kann, munkelte: «Guten Rückflug», sagte ich: «Auch für dich.» Und er schaffte es, zu lächeln, ich hätte ihm diese Größe, diese Würde, diese Gelassenheit fast nicht zugetraut. Religiosität (die ich ja bei
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