Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
November
Totensonntag. Requiem von Mozart (sein eigenes, quasi – wurde ja nicht fertig). Unaufmerksam, da eignes «Requiem» am Abend.
Besuch des Leiters Schiller-Archiv Marbach, zwecks Übernahme meines Nachlasses oder, wie er’s ausdrückte, «Vorlasses». Der ihn «leckerig» macht, auch unübliche Formulierung – ohne zu begreifen, um was es sich handelt. Probeschilderungen meiner «kulturellen Verflechtungen» lösten nichts respektive Unverständnis aus: Das ist so gebildet wie weiland Albrecht Knaus’ Frage (in meinem Eßzimmer) an Grass, den er «abwerben» wollte: «Und wo haben Sie Ihre Jugend verbracht?»
25. November
Jochens Geburtstag – und in Bernds Stadt – und zum «Feiern» von rororo-aktuell, das ich vor 25 Jahren gründete! Ich beginne, meinen länger werdenden Schatten hinter mir herzuschleppen, zernebelnde Lebensspuren.
Die Bonn-Feier unsäglich, Linke können nicht mal sich selber feiern (aber meine leise kaustischen Bemerkungen lösten nur Gereiztheit aus): kein Foto etwa von Dutschke oder Walser, Cohn-Bendit oder Wehner, stattdessen eine chilenische «Combo» und ein (an sich nicht schlechter) Transvestit, der das Ganze zu einer Likör-Bar veränderte (nur in schäbig), auch an solchem Detail die «Entpolitisierung» manifest werdend, meine scharfe, aktualisierte Tucholsky-Collage war so deplaziert wie mein Anzug: Man ist schlampig/dreckig und innerlich; Hauptsache Amühsemang – «Buben», die sich eine Schale (ungenießbare) Suppe holen, während auf der Bühne der Bericht eines gefallenen Falkland-Soldaten gelesen wird. Diese Welt amüsiert sich zu Tode – eine Piaf- oder Marlene-Travestie löst röhrendes Gelächter aus – «noch n Bier her» – aber auf die Idee, das Ernst Busch oder Kate Kühl singen zu lassen, kommt kein Mensch!
6. Dezember
Zwei schöne (etwas anstrengende) Tage im winter-sonnigen Mailand, das mir – sauber, bürgerlich-solide, elegant – diesmal sehr gefallen hat.
Ein wenig stolz, wie ich mich so durch die Welt tummele, saß ich beim Kaffee in der herrlichen Galleria: stolz, weil ich alles in meinem Leben aus eigener Kraft geleistet habe; keine reiche Heirat, kein Erbe, keine Eltern, keine «Beziehungen». Beeindruckt von der geschmackvollen Eleganz, die Paris in den Schatten stellt, jeder Schal, jeder Pullover, jede Krawatte sicher im Stil.
Witzige Nacht-Parties mit der unermüdlichen Inge Feltrinelli, die noch um 2 Uhr mit Scharen junger Leute im Restaurant sitzt; darunter Sohn «Carlino», nun ein nervös blinzelnder, schweigsamer junger Mann – wie lange ist Feltrinellis Tod her? Ich kenne Carlino noch «als Flocke».
Traf Umberto Eco – überrascht, als er aus einem Saal bei einer dieser Parties «Raddatz, Raddatz!» rief. Wüßte nicht zu sagen, woher wir uns überhaupt kennen. Erstaunlich unprätentiös und nett für den Autor eines Weltbestsellers.
Hotel Las Salinas, Lanzarote, den 15. Dezember
Seit gestern mit ziemlich langer Nase hier, mieses Hotel, das Kleinbürger wohl «schick» finden (trinken auch zum Frühstück Sekt …), viel zu teuer, ärgere mich sehr, da verdiene ich so mühevoll mein Geld, um es hier für mieses Essen und flachen Wein herauszuschmeißen.
Und schlechtes Wetter. Und ein schlechtes Buch, Wedekinds vollkommen banale Tagebücher, die lediglich Notate zwischen Déjeuner, Diner und Souper sind, anschließend stets irgendeine Henriette im Bett. Langweilig. Das war Brechts Lieblingsautor?!
Hotel Las Salinas, Lanzarote, den 20. Dezember
2 seltsam sich widersprechend-ergänzende Tagebücher gelesen: Henri-Frédéric Amiel (genannt «Fritz»!) und Varnhagen von Ense aus 1848. Der eine nimmt Zeit kaum wahr – und liefert ein geradezu finsteres, faszinierendes Innenbild vom Menschen (offenbar ist Botho Strauß sehr beeinflußt von ihm): der Mensch als Code, als sinnloses, zielloses Zufallswesen innerhalb einer (von Tausenden) sinn- und ziellosen Zufallswelt. Der andere fixiert nur Politik und Tagesgeschehen, nichts von sich – und liest sich prompt wie eine Zeitung. Die allerdings spannend, da Adel und gesamte Oberschicht bis hinauf zum König als erbärmlichste korrumpierteste Wichte verurteilend.
1933 begann 1918. Begann 1918 schon 1848? Die Verkommenheit der Deutschen liegt so tief, es wird einem bange.
Hotel Las Salinas, Lanzarote, den 26. Dezember
Am 24. eigenartige Heilig-Abend-Ikonographie beim Auto-Ausflug zu den wirklich bizarren Grotten-Schönheiten der Insel: Fischer mit nacktem Oberkörper in
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