Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
schwer, höflich und distanziert und nicht wütend-aggressiv zu werden; aber aggressiv «kommt nicht an». Auch ein deutsches Phänomen.
15. Oktober
Diesiges Nebel- = Selbstmordwetter. Anhaltende Depression, ohne inneren Elan. Alles war bei mir so früh – hört’s auch früh auf (wenn ich heute etwa in der Zeitung lese, wie wichtig die Bilder von Charlotte Salomon waren/seien: Ja, wer hat sie denn damals, gegen alle Widerstände, verlegt?)? Und wer hat auf die scheußliche Anbiederung Noldes aufmerksam gemacht («Ich habe schon vor Beginn der nationalsozialistischen Bewegung als fast einziger deutscher Künstler in offenem Kampf gegen die Überfremdung der deutschen Kunst, gegen das unsaubere Kunsthändlertum und gegen die Machenschaften der Liebermann- und Cassirerzeit gekämpft», schreibt er am 2. Juli ’38 an Goebbels!! – umsonst geleckt, sagt man dazu in Berlin).
Habe mehr und mehr das Gefühl, mich nicht verständlich machen zu können – Gefahr, deshalb larmoyant zu werden. Vorgestern abend z. B. mit Haug von Kuenheim gegessen, der eher kühl-erstaunt war, als ich ihm DIREKT sagte, wie unerhört ich’s fände, daß er sich ein Jahr lang nicht bei mir gemeldet habe. «Ihr Zimmer liegt so ungünstig.» Muß aber aufpassen, nicht zum sozial-kulturellen «Pflegefall» zu werden, so à la: «Ach der Raddatz, den muß ich ja auch mal wieder anrufen.»
17. Oktober
Gestern abend Ledig und Jane zum Essen, ein einerseits schöner, ruhiger, sehr genießerischer Abend. Sie wissen, was sie sehen, bis zum Glas. Andererseits platzte mein Witz wie eine Seifenblase: Ich hatte als «Menukarte» ein Exemplar der französischen KUHAUGE-AUSGABE genommen – Jane schlug sie auf, fand es lustig und sagte: «Das Buch habe ich leider nie gelesen.» Gut, gut, ich bin nicht Thomas Mann, aber sie ist auch nicht Frau Samuel Fischer; das gehört sich doch nicht, zu Gast bei einem Autor? Wenn ich ehrlich bin: war der Abend nur Geplapper, bei luxuriösem Essen und Ambiente.
Derweil liegt Jochen im Sterben. Sonderbar: Einerseits macht mich dies langsame und endlose Sterben von Mary und Jochen «ungeduldig», grausiges Wort – aber man kann nicht monatelang traurig-gespannt sein. Andrerseits ist der Moment, in dem ich mir klarmache, der – die – ist morgen nicht mehr da, furchtbar. Und auch mein ewiges Selbstmitleid kommt gleich hervor: Warum soviel Tod in meinem Leben? Nun habe ich diesen Mann schon als «Ersatzvater» gewählt, er war 30, als ich ihn mit 14 Jahren «aussuchte» – da könnte er doch auch mich überleben? Andre haben doch JETZT noch Vater und Mutter, wenigstens eines von beiden?
20. Oktober
Trauer: das langsame Sterben von Jochen, mit dem ich nun täglich telefoniere – ausgerechnet mitten in DEM Roman!! –, dessen Stimme kaum noch zu hören ist. Absurd die verkehrte Situation: Nun pflegt Gitta ihn, den sie jahrelang gehaßt hat, selbst von Scheidung, Weglaufen usw. war ja schließlich mal die Rede gewesen, wie eine Samariterin. Sie schläft in seinem Krankenzimmer, wischt ihm 10mal pro Nacht den Schweiß ab, wäscht ihn, pudert ihn, salbt ihn – die Männer werden zum Ende hin wieder das Kind der Frau und die Frauen die vergebenden Mütter, deren Sohn nichts falsch gemacht haben kann (da können sie so viel herumgefickt haben, wie sie wollen …). Wie einsam und un-gebadet wird man bloß mal verrecken?? Ach, wenn man bloß den Moment noch erwischt, das alles «reinlich» und mit korrekter Kraft «selber zu erledigen».
In diesem Kontext hat mich gestern die – sonst mittelmäßige – Aufführung von «Totentanz» sehr berührt. «Ist er tot?» fragt lüstern-düster, gleichzeitig ihre Erlösung erhoffend und ihre Trauer vorbereitend, die Frau. Welch verquer sich drehendes und immer wieder drehendes Kraftfeld, Elektrofeld menschliche Beziehungen doch sind. Und der Mord nistet immer daneben.
21. Oktober
Lese meinen eignen Faulknertext und darin die Enttäuschungen, mit denen dieser Autor fertig werden mußte, Rücksendungen von Manuskripten etc. – – – aber er wußte, er war «der Homer des Südens». Ich weiß garnichts, bin meiner selbst sehr unsicher. Selbst jetzt, bei Durchlesen respektive Durchredigieren meines neuen, in Kampen geschriebenen Roman-Manuskripts, finde ich’s mal sehr gut, intensiv, voller Tempo, Verve und gelungener Menschenbilder – und manchmal utterly banal.
Haftender Eindruck übrigens beim Strindberg-Abend. Wie seltsam modern das Stück ist, wie kein Beckett und
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