Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
selbst in den wenigen Minuten, die ich bei ihr war – «Jetzt ist genug besichtigt, machen wir’s kurz, ich will nicht, daß Sie mich in meiner Schwäche sehen» –, sagte sie: «Ich übergebe Ihnen alles ordentlich.»
Gleichzeitig auch hier dieser Satz: «Du warst immer der Wichtigste, die Nummer eins.» (Aber das Haus wurde an Fremde verschenkt …) Wie soll ich das bloß aushalten – hat es nicht auch etwas Ausbeuterisches? Ich war gewiß, für Jochen wie für die Mary, die «Nummer EINS» – aber leben muß ich, wie ich es schaffe, wie ich über die Runden komme.
Wobei entsetzlich, ein Dürrenmatt-Stück, ihre Situation ist: umlauert von Erben, von Altersheim-Schranzen, die nur eifervoll fragen: «Wo ist der Ring mit dem grünen Stein?» oder: «Die Goldbrosche mit dem lila Stein hatte sie mir aber versprochen.» «Ich kriege die Kuchengabeln» – das könnte der Titel eines schaurig-komischen Stücks über «die Erbin» sein – denn sie war ja wohlhabend, weil Erbin –, den Satz sagte irgendein russisch sprechendes «Schätzchen», das sich im Altersheim an sie herangemacht hatte.
14. November
«Ich lebe gerne» – diesen Aufkleber las ich dieser Tage an einem Auto; könnte ich so einen Satz sagen, so einen Aufkleber mir an den Kopf oder ans Herz kleben?
Wohl nicht. Es klingt so freudig. In meinem Leben war nichts Freudiges – war vielleicht viel Genießerisches. War auch viel Liebe – aber das ist eine andere, größere Kategorie. Man kann sehr lieben – ich habe bestimmt dreimal in meinem Leben sehr geliebt – und würde dennoch so einen Satz nie sagen. Er hat was Konsumentenhaftes. Eine Werbung heißt: «Ich rauche gern» – so was hat das.
Mindestens ebenso verständnislos stehe ich ja vor der Kultur«wende» – ich begreife viele der Texte, die produziert werden, nicht mehr (seltsamerweise NIE bei Primärtexten geht es mir so – die mag ich eventuell nicht, aber ich BEGREIFE doch Botho Strauß wie Handke wie Brigitte Kronauer oder Schütz, die ich schließlich auch alle rezensiere oder in Essays behandle). Aber der Journalismus? Ein Meinungsragout breitet sich aus, mal süß, mal sauer angerichtet. Ragout bleibt Ragout.
Man wird allmählich – oder sehr rasch – wie die alten Damen, die bespöttelt noch weiß geklöppelte Handschuhe tragen. Habe ich weiße Klöppelhandschuhe überm Hirn?
15. November
«Ich bin ein Klassiker» – das muß man auch von sich sagen können; jedenfalls sagte es Hans Mayer eben in einem einstündigen Bedeutungs-Duschen-Telefonat, in dem es von Vorträgen, Artikeln, Büchern, Einladungen nur so prasselte. Im Vordergrund «der Geburtstag», wie er stets seinen eigenen, runden Geburtstag mit selbstverständlicher Naivität eines Kindes zu nennen pflegt – diesmal wird die Stadt Köln dazu gezwungen, ihn auszurichten. Der er ja schon vor Jahr und Tag seinen «Nachlaß» aufgezwungen hat (den er per Wanderausstellung, als handle es sich um Buchheims Bilder, von Frankfurt bis Berlin herumschickt) und von dem Gneuss mir damals voller Entsetzen erzählte, daß er weder Briefwechsel noch Manuskripte enthalte, nur Postkarten von Celan, «ankomme 12.30» oder so. Und wer will die Handschriften seiner Aufsätze sehen??
Seltsamer Mann, nicht ohne «terroristische» Züge – «ich bin besser» war die Summe seines Urteils über Golo Manns Erinnerungen, die er gleichwohl rezensiert: «Aber natürlich keine Rezension, ich rezensiere keine Bücher – ich zeige das Gemeinsame zweier Biographien, die ja viel miteinander zu tun hatten.» In Wahrheit – außer, daß es zwei Schwule sind – haben beide Biographien rein garnichts miteinander zu tun, der Kölner Jude aus dem nur angedichteten Großbürgertum (eher Kleinbürgertum) und der Sohn des hochberühmten, reichen Lübeckers, dessen Mutter vielfache Millionärin. Gleichzeitig schrecklich, was er von Golo Mann erzählt, der sich elend fühlt trotz Bestsellerruhm, alleine (der Pflegesohn – vulgo: Lover) im Sterben, die irre Schwester ante portas. Die beiden Nachfahren Thomas Manns, Sohn Golo und Tochter Monika, liegen seit Jahrzehnten im Dauerkrieg, sie wohl ziemlich verrückt (hat mir manchmal geschrieben) und Golo, der es offenbar als natürlich ansieht, in Vaters Haus am Kilchberg sein Leben zu beschließen respektive seit Jahren dort zu wohnen, ist entgeistert bei der Idee, er könne dort nicht weiter alleine wohnen – obwohl’s vermutlich der Schwester zu selben Teilen mitgehört.
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