Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ein weiteres Mal den seltsamen Schnitt zeigt, diese «Umkehr», ich meine: Abkehr von der Malerei hin zur eleganten Produktion. Die frühen Bilder (die übrigens nie jemand wollte, sie gehören meist ihm – erst jetzt hochgeschätzt und hoch gehandelt) zeigen einen ungewöhnlich starken, intensiven Maler. Sonntag abend dann bei ihm, wo wir uns per Video die wegen Kolumbien versäumte Eröffnung samt lustig-ernst-freundschaftlicher Janssenrede ansahen. «Wir», das war nämlich auch Grass und Ute – und Günter Grass unterbricht nervös und rabiat jede Frage, Bemerkung, und sei’s zu Wunderlichs Malerei; frage ich: «Wie ist das wohl für einen Maler, so durch sein eigenes Leben zurückzugehen wie durch einen rücklaufenden Film?», unterbricht er sofort Pauls Antwort mit einem: «Ich habe nie meine früheren Bücher wiedergelesen.» Erzähle ich von García Márquez, kommt SOFORT ein Bericht von seiner Begegnung mit dem. Will Ute was sagen, unterbricht er sie. Mir fiel sein schrecklicher Satz von vor paar Jahren ein: «Ich gebe nicht mehr, ich nehme nur noch.» Scheint kein Aperçu gewesen zu sein, sondern Lebens-Motto und -Inhalt. Geben tut er allerdings Geld – immerhin, an die zahllosen Kinder, Frauen, Kindesmütter.
10. Juni
Ein für mich herrliches, will sagen Schlechtwetterpfingsten in Hamburg mit Manuskript-Arbeit hinter mir, den Eisschrank voll Eintopf und Dauerwürstchen und Süßspeise, Gerd unten in der kleinen Wohnung auch in der Arbeit an einem Manuskript (über die Freimaurer und ihre Nazikollaboration), nachmittags Tee und abends gemütliches Essen oder Kino (mäßige, zu hübsche García-Márquez-Verfilmung) oder Theater (wunderbare Martin-Benrath-Lesung des Zauberbergkapitels, in dem Castorp sich in den neuartigen Apparat genannt Grammophon verliebt und allerlei Musikstückchen durchprobiert, die Thomas Mann z. T. köstlich parodierend analysiert oder nacherzählt, das Ganze mit alter Musik unterlegt, Caruso usw. – – – – ein Kabinett-Stückchen sowohl großer Prosa als auch der Schauspielkunst). Vorher eine Stunde auf ein Glas Champagner Paul und Karin – – – – – also Tage, wie sie mir sehr gefallen.
14. Juni
Habe eben den «großen» (?) Essay über die Gegenwartsliteratur beendet, der unter dem Titel «Die 3. deutsche Literatur» als Band drei meiner DDR- und BRD-Literaturgeschichten (die keine sind, sondern subjektive Überlegungen zur zeitgenössischen Literatur) im Herbst als Taschenbuch erscheinen soll. War eigentlich auf dieses Unternehmen recht stolz – nun ich’s abgeschlossen habe, scheint’s mir ungenügend. Einerseits: von Biermann bis Schädlich, von Christa Wolf, Walser, Fuchs, Handke, Botho Strauß zu Monika Maron und Wolfgang Hilbig – um nur ein paar zu nennen –: was für eine Fülle behandelter Literatur, interpretierter Autoren, zitierter Interviews, Artikel, Statements; eine enorme Materialfülle. Andererseits fehlen so viele – Bernhard oder Helga Schütz oder, oder. Es sollte und wollte und konnte ja kein Lexikon sein. Aber genau DAS wird mir die Literaturkritik vorwerfen.
Stelle leider fest, daß diese unentwegten Angriffe doch nicht spurenlos bleiben, Vorwegreaktionen hervorrufen, unsicher machen, Bedenken wecken. Ich müßte die Schultern zucken – in Wahrheit aber zucke ich im Schlaf.
22. Juni
Vor paar Tagen Empfang zu Ernst Rowohlts Hundertstem. Ledig vollkommen gefrorenen Gesichts – ist es noch immer, nach 80 Jahren, der Vaterhaß, der ihm den Mund versiegelt und das Gesicht einfriert. Es war eine Veranstaltung ohne Charme, ohne Autoren, ohne Liebe.
26. Juni
Gestern abend schönes Fischsuppenessen mit Grass, Ute, Gerd. Grass sehr «milde», freundschaftlich, hat kaum noch Umgang, fordert geradezu, daß wir uns öfter sehen, und berät sich – bizarr – mit mir, was er zu seinem 60. Geburtstag machen soll – – – – nur Familie und «engster Freundeskreis», aber wie eng ist engstens?, oder große Fête. Bot ihm an, die auszurichten. Erzählte hochinteressant von seiner DDR-Reise, seiner Polenreise und auch von seiner früheren Arbeit, von Paris (wieso sich dort in dem alten Haus Jahre später Manuskripte der heute sogenannten «Urtrommel» fanden). Gutes Gespräch über Heidegger (von dem ich nichts weiß, d. h. nicht mehr als die landläufigen Vorurteile; nie gelesen), Nietzsche, jetzt die Entdeckung von Borchardt durch Botho Strauß. Das Gespräch war eine sonderbare Fortsetzung des gestern abend endlich abgeschlossenen
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