Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Essays über die «Dritte deutsche Literatur», dessen Manuskript heute in den Expresskasten plumpste. Wir kamen auf Lukács, ich hole «Die Zerstörung der Vernunft» aus der Bibliothek, dann kommen wir auf Einar Schleef, den er und auch Ute nicht kannten – ich holte die Bücher wieder aus der Bibliothek. So muß eigentlich ein freundschaftlich-vernünftiger Abend sein.
7. Juli
Vormittags mit der Post Kritiken über meine Lesung in Hannover, von denen mich eine mit Thomas Mann vergleicht – was zwar der reine Unsinn und Frevel ist, aber gut gemeint. Mittags «Akzeptanz» meines García-Márquez-Manuskripts, das in der ZEITmagazinredaktion großen Jubel ausgelöst habe, «der beste Raddatz je», auch dies natürlich Quatsch, aber besser als umgekehrt.
Nachmittags bei Kempowski, skurril. Erzählt ganz unbefangen vom «Freund meiner Frau; aber natürlich, mein Lieber – nach einer Weile wird die Sache mit der Sexualität doch ekelhaft –, wenn man sich da nicht entscheidet, wird man sich VOLLSTÄNDIG ekelhaft, also regelt man das besser, indem jeder seiner Wege geht – aber der neue Partner darf natürlich nicht ins Haus –, und man rettet die Ehe. Unsere ist daraufhin wunderbar.»
Dann zeigte er mir sein vollkommen absurdes, tickhaft überbordendes Archiv mit 1000en von Fotos, Laienbiographien, grotesken handschriftlichen Lebensläufen im Sinne des ewigen Taxifahrerspruchs «Mein Leben, wenn ich das aufschreiben täte, es wäre ein Roman» – das geht vom Arbeiter 1920 über die Hausfrau im Kriege und die Familie auf dem Flüchtlingstreck bis heute. Einmalig und verrückt.
Kempowski aber nett, kleinbürgerlich-herrenhaft (zu einem Hausmädchen: «Sie macht leider immer die Türklinken schmierig»), aber auch wieder freundschaftlich-kollegial. Will ein mehrstündiges Interview mit mir machen «Alles über Raddatz» und publizieren. Was ich in diesem Fall wohl mitmachen werde – er ist honoriger (deshalb vielleicht der schlechtere Schriftsteller?) als Fichte, dem ich das seinerzeit ablehnte, auch, weil er mir den Text nicht vorlegen wollte – was Kempowski zu tun verspricht.
8. Juli
Verblüffend vollkommen offene Schilderung von SPIEGEL-Redakteur Dieter Wild über die inzwischen unselige Rolle Augsteins im SPIEGEL, wo man froh ist, wenn er NICHT erscheint, weil er NUR betrunken ist, die Sitzungen mit übelsten Kasino-Macho-Witzen «belästigt» und für neue junge Mitarbeiter, die ihn als Mythos kennen, ein wahrer Schock ist. Grauslich. In gewisser, verquerer Weise spricht es FÜR ihn: Er hat Erfolg und Ruhm nicht verkraftet, ist nicht windschnittig genug. Selbstekel?
26. Juli
Korrekturlesen vom WOLKENTRINKER beendet. Peinliches Gefühl: Das Buch gefällt mir, ich finde Menschen, Situationen, Bilder gelungen, gar – was man ja nie über Selbstgeschaffenes sagen dürfte – «ergreifend».
Interessant dabei übrigens auch die endlos vielen Verzahnungen an Selbsterlebtem, Erfundenem, Menschen, die es gab, und Menschen, die es SO nie gab, die «zusammengesetzt» sind aus mehreren realen, Sätze, die mir mal jemand gesagt hat und die hier nun im Munde anderer Figuren hängen. Das sollte ICH mal analysieren.
Strange auch – las gerade das 17.-Juni-Kapitel –, daß genau in diesen Tagen per Briefwechsel mein alter Streit mit Stephan Hermlin (ausgerechnet: STEPHAN Hermlin …) wieder entfacht ist. Was mich dabei beschäftigt: wie Menschen sich ihre Biographie zurechtlügen. SEINE Kommandeuse-Erzählung vom 17. Juni ist innerlich unwahrhaftig, selbst wenn sie Geschehenes kolportieren sollte. Aber dazu hat etwa ein Hans Mayer nie eine Silbe gesagt, weswegen die beiden Herren – auf der Basis der schweigenden Lüge – weiter befreundet sind, Hermlin Mayer kürzlich in der Ostberliner Akademie der Künste begrüßte und einführte (beider Text in SINN UND FORM publiziert), Mayer seinerseits, als sei nix geschehen, einen Vortrag über Karl Kraus «abziehend».
Hätte je einer der beiden auch nur EINMAL ehrlich zu irgendetwas Stellung genommen, zu Unrecht, Verhaftungen – irgendetwas: Dann gäbe es solche Einladungen, solche Vorträge, solche Übereinkünfte durch Schweigen nicht. MICH beleidigt Hermlin als einen, dem man nicht trauen kann (wiederum fast ein Kompliment), respektive einen, dem auf knifflige Fragen zu antworten er sich nicht traut. Dieser Briefwechsel ist ein Dokument.
Hotel Vier Jahreszeiten, München, den 27. Juli
Zwischenstation auf dem Weg nach Belgrad (wovor ich mich fürchte: meine
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