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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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ich schattenlos durch die (kalten) Straßen, kein Augen-Blick, kein Sich-Umdrehen, es knistert nirgendwo – was doch früher an jeder Ecke und … zigmal am Tag sich ereignete. So sitze ich dumpf im Deux Magots und trinke Tee wie eine alte Engländerin, nicht mal ein Gigolo in Sicht. Man mag sich so nicht.
    Im Moment freue ich mich nicht mal auf Südamerika – stattdessen schleiche ich die rue Jacob am Hôtel Angleterre vorbei und erinnere mich, wie es mal war – mit Bernd: so tendre und so wild zugleich. Tempi passati …
    23. März
    Willy Brandt zurückgetreten. Auch damit geht ein Stück «meiner Welt» zu Ende. Nicht nur, weil ich ihn persönlich gut kannte, seit er Berliner Bürgermeister war (mit seiner Hilfe etwa Hajo Rumpoldts Sohn – die Familie hatte ich durch den Gully aus Ostberlin geholt! – nach der Flucht einschulen konnte), ein wichtiges Interview mit ihm machte, ein schönes Widmungsfoto habe, zahllose Wein-Cognac-beschwingte Abende mit ihm, Böll, Grass (nach Abschluß meines Marx in Wewelsfleth; am Abend vor Bernds Tod!) verbrachte. Er war für mich auch ein Stück politische Moral, Hoffnung auf vernünftigen, machbaren Sozialismus. Er war kein Roosevelt, und ich bin kein Thomas Mann, aber was der für den war, war Brandt für mich. Die Demokratie mein(t)e ich …
    24. März
    Abreise-nervös. Morgen früh geht’s also ab nach Kolumbien – fühle mich eher ängstlich-alt als aufbruchs- und abenteuerfroh.
    Le Ritz-Carlton Hotel, Washington, den 23. April
    Back to civilisation – und sonderbare Ankunft. (Tagebuch 4 Wochen unterbrochen, weil für die Kolumbienreise Separat-Tagebuch geführt): benehme mich wie eine kapriziöse Dame, weil mein extra aus Hamburg hierhergeschickter Koffer – mit Anzügen etc., die ich nicht wochenlang durch den Dschungel schleppen wollte – nicht da war; als könnte ich nicht zur Not in Jeans und Lederjacke auf einer Literaturtagung mich bewegen.
    Erster Akt hier wie die panische Suche nach meinem (europäischen) Zentrum: National Gallery, voller allerschönster Bilder, ob Cézanne oder Leonardo, Tizian oder Puvis de Chavannes, Beckmann oder Tintoretto, Impressionisten, Picasso: die «Erkennungsmusik».
    Traf Enzensberger im Museum – er ist immer (zu?) apart, spricht von seinem Baby als «höflich» (weil es ihn morgens schlafen läßt) und davon, daß er gegen reiche Leute wie Mrs. Getty keinen «Rassismus» hege; womit jedes Argument gegen reiche Nichtsnutze als «Rassismus» denunziert ist.
    Will hier über die Weltbank recherchieren; auch apart. Und über den Weltwährungsfonds, der «eigenes Geld» druckt.
    5. Mai
    Das «Tagebuch-Loch» zeigt, wie lange ich nicht «bei mir» war. Zwar hat Kolumbien wie alle diese Reisen sein «eigenes» Tagebuch, und das anschließende Washington war zu wirbelig – aber nun bin ich fast 2 Wochen hier: und komme erst allmählich zur Ruhe.
    1. Wochenende in Sylt war wie in der Reparaturwerkstatt, nur essen, schlafen, Sauna, Massage, spazieren, Rad fahren. Ich genoß Kühle und Wind und die «Mondlandschaft» (verglichen mit der Üppigkeit der Tropen) – wie deutsch man doch ist. Ob Hering mit Bratkartoffeln oder Tatar und Tuborg-Beer: Man will «seins». Je älter man wird …
    Hier erst mal der übliche Unrat in der Post, Haus-Ärger, Presse-Ärger (weil sie im Moment keinen Text von mir haben, bin ich, ausgerechnet!, nach 15 Jahren 1-Dollar-Man!, der Tucholsky-Verwahrloser …). Es dauert über eine Woche, bis man den Dreck weggeschaufelt hat.
    Positives: sehr gutes erstes Echo auf das Roman-Manuskript von Gisela Lindemann, die Auszüge im NDR sendet; von Rowohlts Naumann und, am enthusiastischsten, von Lortholary aus Paris, der’s «sofort» verlegen will.
    Also muß ich bei aller Quengelei auch das Gute sehen.
    6. Mai
    Manch Tag explodiert wie eine Kirsche, die die Sonne aufplatzen machte: geruhsamer Vormittag, Kram, Post, Telefon.
    Nachmittags dann Grassens: er von ungebrochener Vitalität, auch – wenn auch gekränktem – Selbstbewußtsein. Sie (heimlich, wenn er pinkeln war) von der Schauerzeit aus Kalkutta erzählend, vom Dreck, Elend, Wassernot und Bügeleisen, auf dem Schwarzmarkt gekauft. Für sie, Ute, fast un(über)lebbar; für ihn «a challenge» . Kehrt heim mit 300 Zeichnungen, die er en bloc an ein Museum oder garnicht verkaufen will.
    Kampen, den 14. Mai
    2 Tode sind «nachzutragen»!
    Kurt Becker, seinerzeit stellvertretender Chefredakteur der ZEIT (und später Helmut Schmidts Regierungssprecher). Ein

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