Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
usw. –, wo ich als Kind Ferien machte, Fischerskaten; wie immer das heute heißen mag. Es wird auch, bei der Rückfahrt, meine erste Reise in/durch die DDR sein seit meiner Flucht 1958 – und ich bin nervös wie ein Kind, das zum ersten Mal fliegt.
Ins Bild hineincollagiert nun gestern abend die Wilson-Dorst-Parzifal-Premiere (mit und über Parzifal wurde ich examiniert im Staatsexamen …). Und in Berlin noch meine Mondäne, das ewige und wohl nie zu lösende Rätsel. Von so rasender Oberflächlichkeit, «das fliehende Pferd», immer muß zu einer Verabredung noch ein Zweiter, möglichst ein Dritter kommen, immer wird ein Brötchen angeknabbert, ein Schluck Tee getrunken, dazwischen telefoniert – und dann plötzlich, mittendrin, zwischen anrufender Friseuse und angerufenem Chauffeur, kommt sie und zeigt weinend Fotos des gestorbenen Freundes. Bei mir neulich zu einem Kurz-Besuch: «Bitte Tee», aber in der Küche, wo eine angebrochene Flasche Bordeaux steht, sofort davon ein Glas. Nehme ich eine Tablette, will sie sofort dieselbe (gleiche), egal, wofür oder wogegen. Warne ich sie vor jemandem, der schlecht über sie spricht, kommt sofort eine Retourkutsche: «Über dich sagt man auch, die Gräfin habe dich endgültig zum Abschuß freigegeben.» Sie ist in einer Sekunde sanft und hart, oberflächlich und genau, große Dame und Schulmädchen mit dem Ranzen, in dem das ewige Butterbrot steckt und der der Rock rutscht. Als ich sie im Hotel abholte, stand da im «Salon» eine kalte Suppe und 2 Scheiben vertrocknetes Weißbrot – ihre Kraft, aber damit auch ihr Interesse für den anderen, ihre Aufmerksamkeit reichen nicht mehr, auch nur ein Glas Wein und ein paar «Häppchen» hinzustellen.
Kampen, den 25. September
Das Jahr faltet sich zusammen, leise, behutsam, wie ein (leider auch sehr nasser) Regenschirm, eine dünn-verschwimmende Septembersonne von den letzten Möwen zerschrien und darunter, in Plaids gewickelt, Pflaumenkuchen und Lektüre der wieder und wieder mich tief berührenden Tucholsky-Briefe an Nuuna.
Die Polenreise stak mir wie eine Gräte im Hals – nicht nur die Angst vor der DDR-Grenze, die ich ja nun das 1. Mal nach 3 Jahrzehnten überquerte. Aber all die Eindrücke und was mir durch den Kopf ging, steht in dem ZEIT-Artikelchen – muß also hier nicht notiert werden.
29. September
Schlimmes, gar kränkendes Zeichen für den Zustand unseres kulturellen merry-go-round , wieviel Absagen zu meinem Fest zu Grass’ 60. Geburtstag kommen – immerhin dem bedeutendsten deutschen Nachkriegsautor; schlimm vor allem, MIT WELCHER Begründung abgesagt wird: Sie bauen alle unentwegt, emsig wie die Ameisen, an ihrem kleinen Rühm-chen:
Mayer hat einen Vortrag vor Anwälten (!!) in Köln und Enzensberger einen Termin in Prag, Muschg ist in Amerika und Brandt in Dakar, Hildesheimer muß sich erholen (wovon?), und Habermas hat einen «Familientermin», Jürgen Becker hat zuviel Arbeit, und Jens Jensen muß in die Ferien – – – – – was sie alle alles absagen würden, würde ein Preis winken, ein Auftrag. Sie können nicht mehr lieben, sie drehen sich um sich selber, können keine «Gabe» mehr bringen, und sei die Gabe nur sie selber. Der Narzißmus ihrer Bücher ist Produkt einer Haltung, die in so was offenbar wird.
1. Oktober
Der Egoismus, popelich und kraß, bei Brasch. Erst erwinselt er sich ziemlich unverfroren meine Hilfe («Sie kennen doch so viele reiche Leute») für eine Finanzlücke bei seinem Film, dann telegraphiert er nicht nur unverschämt, sondern auch peinlich an Reemtsma, weil der ihm das Geld nicht gibt; die Unterschrift «Thomas Brasch, dem 12 Verwandte in Auschwitz vergast wurden» könnte man nicht erfinden …
Die erste Gesamtausgabe der Werke von Günter Grass ist erschienen. Aus diesem Anlaß bitten wir Sie zu einem Empfang am Vor-Abend der Buchmesse,
Dienstag, den 6. Oktober 1987, um 20 Uhr
im Haus der Gesellschaft für
Industrie, Handel und Wissenschaft
Siesmayerstraße 12, Frankfurt a. M.
Luchterhand Verlag
Hans Altenhein
Um Antwort auf beiliegender Karte wird gebeten
Banaler, leerer Abend, Journalistengeplapper. Am Tisch Willy Brandt, heiter, voller Anekdoten und Sottisen – aber seine grauenhafte (junge?) Frau, besserwisserisch, oberlehrerhaft, ihm (und anderen) über den Mund fahrend. Eine deutsche Hausfrau, aber promoviert.
Inge Feltrinelli witzig, schnell, frivol wie immer. Grass gut in Form, sichtlich genießend, gefeiert zu werden. Ledig noch spät in
Weitere Kostenlose Bücher