Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
Dankes – außer in der privaten Umarmung. Einzig der zähe alte Jude Liebermann hatte Stil, schickte vorher per Fahrer eine Kiste teuren Bordeaux FÜR MICH.
    19. Oktober
    So farbenfroh sich dieser Herbst schmückt, die Blätter schwanken im Wind herab wie Gold-Plättchen schimmernd, soviel Traurigkeit.
    Von Grass, nach DIESEM schwungvollen Fest, NIE 1 Wort, 1 Zeile, auch von seiner Frau nicht – als hätten sie ein Restaurant verlassen.
    29. Oktober
    Jochen Munds erster Todestag (knapp 1 Monat vor seinem Geburtstag – wie bei meinem Vater!!!) – und mit vielen «Pointen»: Ausgerechnet heute kommt ein langer Brief von Ruth-chen mit einigen früheren Briefen von ihr und mir beigelegt, u. a. einem Bericht von mir über Ferien mit Jochen an der Ostsee (auch sehr geschmackvoll von mir!!!). Und einem langen, noch heute ratlosen Brief über uns beide damals: Zentrum der Frage ist die nach Nähe und Distanz.
    Entsetzlich aber die Tucholsky-Situation. Nach erstem Überschlag sind es also 2 Millionen, die die sparsame Mary hinterlassen hat – wahrlich ein stolzes kleines Vermögen für einen «Schriftsteller». Nur: Für eine STIFTUNG reicht es nicht, da man das Vermögen selber ja nicht anrühren darf, sondern alle anfallenden Kosten – von Stipendiaten bis zum Stütznergehalt – NUR von den Zinsen bezahlen darf. Grob gerechnet: 5 % von 2 Millionen sind 100.000 Mark im Jahr – was aber die Kosten nicht deckt. Ich weiß buchstäblich nicht, wie das werden soll.
    Um die Addition der Pointen weiterzuziehen: Dieser Tage kam nun die Ernennungsurkunde für diesen französischen Orden – auch dies in sich ein Unding (und von mir mit einem sehr kühl-spitzen Brief an den Hamburger französischen Konsul beantwortet): 1 ½ Jahre nachdem Jack Lang mir das Ding geschickt und unterzeichnet hat, kommt es hier an, per Post, ohne 1 Zeile des Konsuls, mir quasi vor die Füße geworfen.
    Excelsior Hotel Ernst, Köln, den 2. November
    Tod ist sehr tot: Marys Vermächtnis ist Chaos, zuwenig Geld für die Stiftung, und Martha Feuchtwanger, höre ich, hat zwar 2 Millionen Dollar hinterlassen, aber die University of Southern California, der sie Haus, Bibliothek, Handschriften – alles!, ein Vermögen – geschenkt hat, will das wunderbare (letzte originale Haus eines Emigranten) verkaufen. 1 Tag nach dem Tod ist alles vorbei; man kann sich das nicht deutlich genug machen. Schlimm ist lebendig sterben.
    Hotel Bachmair, Rottach-Egern am Tegernsee, den 12. November
    Schmerzliche Absurdität: Hier kam ich einmal mittellos an – und hier gebe ich nun der, die mich aufnahm, die letzte Ehre.
    Aber auch nur ich – ob Blumen oder Leuchter oder das Menu: Ich muß die schlimmsten Scheußlichkeiten an grüngefärbten Nelken und Alpacakerzenhaltern und Lachshäppchen verhindern. Ledig-Rowohlt kommt zwar, aber sein (ehemaliger) Verlag, der im Gegensatz zu mir an Tucholsky, also auch der Mary, viel Geld verdiente, ist eben nur «Gast». Wer redet (und wer nicht), wer einen Tucholsky-Text spricht und welchen: Ich muß entscheiden. Ich tue es gerne; aber es ist bitter. Quittung auch für Marys Härte? Mir war dieser Mensch wichtig.
    An diesen Frust mußte ich denken, als ich kürzlich in der Essener Vorlesung den wunderbaren Brief Rosa Luxemburgs an Mathilde Wurm verlas: «Nie war mir euer griesgrämiges, sauertöpfisches, feiges und halbes Wesen so verhaßt wie jetzt … . Ach, Ihr elende Krämerseelen … Ein Glück, daß die bisherige Weltgeschichte nicht von Euresgleichen gemacht war, sonst hätten wir keine Reformation …» Wer hat recht? Hat sie was erreicht/verändert – außer die eigene Ermordung?
    Lufthansa, auf dem Flug nach Stuttgart am 13. November
    Hans Werner Richters 80. Geburtstag in Saulgau (vor 10 Jahren entstand Grass’ «Treffen in Telgte» aus diesem Anlaß) eine zu Teilen groteske Alt-Herren-Versammlung, bei der man zwischen dem halb-tauben Hildesheimer, einem erloschenen Jürgen Becker oder einem nur noch zur Lach-Grimasse erstarrten Höllerer wählen konnte. Der Jubilar selber sehr greisenhaft, ein Gespräch fand nicht statt – garkeine Gespräche; typisch das Frühstück heute morgen mit Joachim Kaiser, wo wir beide uns gegenseitig nach einem «Robert Wilson zitiert nur noch sich selber» oder «Der Hans Mayer ist wohl doch sehr überschätzt» erschöpft und nichts mehr zu sagen hatten. Die diskurslose Gesellschaft im Miniformat. Keiner hatte die neueren Bücher oder Artikel des anderen gelesen, Kaiser nicht Wiegensteins

Weitere Kostenlose Bücher