Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
der Bar vom Hessischen Hof: «Sie sind ein mutiger Mann – man wird es Sie entgelten lassen» zu meinem Roman.
Wieso eigentlich bin ich so «mutig»?
Parkhotel, Frankfurt, den 13. Oktober
Weitere Absagen für den Grass-Abend: Biermann fällt plötzlich ein, er habe ein Konzert, Kunert dünnlippig und Kaiser per Telegramm.
Kann ich genießen? Ich lerne Hedonismus, wie andere Leute Schlittschuhlaufen lernen. Wochenende mit Gerd am Main-Spessart, u. a. in Deutschlands exquisitestem Restaurant in Wertheim essen: der schöne Herbsttag, Fahrt im offenen Wagen den Main entlang, seine «Überraschung», nämlich einen Schoppen in genau dem Gasthaus in Lichtenau, in dem Tucholsky während seiner Spessart-Reise mit Karlchen und Jakopp trank – ein Bild von ihm hängt tatsächlich im Schankraum.
Aber, angenommen, ich könnte es mir leisten: Wäre es mir genug, hier mal am Schloß Mespelbrunn langzubummeln und mal Riemenschneider (übrigens: grob) in einer Wallfahrtskirche anzuschauen? Wie wird es sein, wenn keiner mehr was von einem will, wenn – jetzt seufzt man über zuviel – garkeine Post mehr kommt? Wie bei Botho Strauß: «Knapp an keiner Post vorbeigekommen», als nach dem Urlaub ein Neckermann-Prospekt im Kasten liegt …
14. Oktober
Gestern abend Telefonat mit Ruth, deren Reaktion auf mein Buch die mir fast wichtigste war; ist SIE es doch, die am genauesten beurteilen kann, was Wahrheit und was Dichtung ist und wieweit letzteres gelungen ist – es ist schließlich IHR Vater, der vorkommt, praktisch als einzige nicht-fiktive Person. Sie ist begeistert und aufgewühlt – und ich daraufhin sehr glücklich. Mehr als über die erste positive Rezension im Tagesspiegel.
Nachmittags weiter Lektüre im Giordano-Buch, das mich sehr aufregt. ALLE seine Thesen sind richtig, entsprechen genau meiner Haltung und Überzeugung: NICHTS wurde wirklich aus den Köpfen und aus den Apparaten schon garnicht ausgeräumt nach 1945. Das Land ist INNEN – und auch technisch – dasselbe geblieben. Ein Polit-Krimi.
Was eine winzige Scene beim Einkaufen bestätigt: Mein Metzger, bei dem ich Dauerwurst für die Polenreise gekauft hatte, fragte mich: «Wie war die Reise?» und reagierte geradezu empört über meine «Bedrückungen»: Die Polen seien schon immer «so» (also dreckig und faul) gewesen, Krieg gäbe es halt immer, und «uns» habe man ja auch die Städte zerbombt. VOLLKOMMENE Indolenz gegenüber meinem: «Aber WIR haben ihn doch angefangen.» Andere fingen schließlich auch Kriege an, und die Amis und Dresden und wir seien eben fleißig, pünktlich und sauber und hätten alles so schön wieder aufgebaut. Mein Einwand «Und der Marshallplan, den die immerhin nicht hatten» wurde weggeschnitten wie eine Schinkenscheibe: «Ach was – WIR waren es, wir hätten auch ohne diesen Marshallplan …»
Was für ein Land. Es ändert sich NIE. Da wundere ich mich.
17. Oktober
Mary Tucholsky ist tot – und draußen ist strahlender Herbst; Tucholskys «fünfte Jahreszeit» …
Die Bäume verlieren die Blätter und die Menschen ihr Herz. In 2 Tagen ist Jochens erster Todestag – so geht einer nach dem anderen aus meinem Leben davon, Menschen, mit denen mich so vielfache Verästelungen verbinden, mein ganzes erwachsenes Leben lang. So merkwürdig: Ich kenne niemanden (geschweige denn Freunde), die wirklich jünger sind, keinen einzigen ca. 35jährigen. Alle, von Erich Arendt bis zu Mary, waren so viel älter – und nun sind sie weg. Seit gestern bin ich also wieder mal «Waise» – – – – – wenn Jochen Mund mein Ziehvater war, dann war Mary Tucholsky ja Ziehmutter; auch mit allen Aufs und Abs und Krächen. Ich bin nicht erschrocken, weil sie ja schon lange starb, ein peinigend-schmählicher mort à credit , Zerfall und Siechtum dieser einst so starken und stolzen Frau. Aber ein Loch gähnt eben doch. Oder bin ich auch kühler geworden, kann nicht mehr weinen, bestürzt sein?
Selbst das Fest für Grass gestern, das (nein: vorgestern) bis tief in den Morgen währte, war nicht frei davon: Es fängt damit an, daß er mir einen alten Katalog mitbringt, geht weiter über den nicht zu kittenden Riß zwischen Monk und Fechner (eine 24jährige Freundschaft, die zerbrochen ist) bis zum Knatsch zwischen Lettau und Rühmkorf. Selbst die kleine Idee mit den 60 Wunderkerzen, in deren Gefunkel ich Mitternacht für Grass die (bei mir!) eingegangenen Telegramme und Briefe verlas: kein Echo von niemandem. Auch von ihm kein Wort des
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