Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Wilson-Rezension, Baumgart nicht Beckers Gedichtbuch, Hans Werner Richter nicht meinen Artikel über sich selber!
Kolbenhoffs Auftritt mit weit ausgestellten Hosen der 50er Jahre und einem Text, in dem das Wort «Barchenthemd» vorkam, war wie ein Symbol; aber auch die geradezu gnadenlos fürchterlichen Schüttelreime, die Wapnewski verlesen ließ, oder diese gesamte «Weißt-du-noch»-Klassenwitz-Atmosphäre: Kramte eine Frau leicht ratlos in ihren Papieren, mußte gesagt werden: «Wie die Bachmann.» Wie überhaupt die Toten (auch, indem man sie möglichst nicht erwähnte) sehr präsent waren – die Bachmann eben, Peter Weiss, Böll, Fichte, Johnson …
Hotel Erbprinz, Ettlingen, den 19. November
Schnappschüsse
Manche Menschen essen «häßlich». Am Nebentisch in Heilbronn saß eine sich «fein» gebärdende Frau (in einer Gruppe zu viert), sie aß bösartig, eine Hinrichtung der Speisen. Ungefickt – rächte sich am Rindfleisch für das fehlende Mann-Fleisch.
Hotel Kempinski, Berlin, am gleichen Tag
Banale Tagung in der Berliner Akademie, wo sich Iring Fetscher mit einem «Die Sowjetunion ist groß und die Probleme vielfältig»-Vortrag blamierte; wenn ich solchen Bla-Bla je irgendwo vortrüge.
Hinflug mit dem besserwisserischen Klaus von Dohnanyi, der seinen «Geben-Sie-mal-her»-Ton des Bürgermeisters beibehalten hat, in der Lounge Notizen macht (als habe er sonst keine Zeit – obwohl er ja keinen Beruf mehr hat) und während der Vorträge Zeitung liest wie Schmidt als Kanzler. «Mein Rücktritt hat internationales Aufsehen erregt», sagt er – als wüßte jemand in Chicago, Mailand oder Liverpool, daß Hamburg überhaupt einen Bürgermeister hat(te), geschweige denn, wie er heißt.
Immerhin: Er ist zurückgetreten. Obwohl er wußte: Die Stadt stellt ihm kein Büro, keinen Fahrer, keine Sekretärin. Er muß jetzt Flüge und Hotels selber buchen!
So saßen Schmude, Dohnanyi und Ota Šik und schrieben, während Fetscher sich in Stileskapaden wie «Der Kampf wird entfaltet», «Das Ruder wird herumgerissen» (statt Steuer!) und «Es sollen Folgerungen stattfinden» erging – aber sie schrieben nicht extra mit, sondern füllten ihre Spesenbelegzettel aus und kramten ihre Taxirechnungen aus den Jackentaschen …
British Airways, auf dem Flug von Düsseldorf nach Hamburg, den 28. November
Meine Mondäne, das ewige Rätsel. Sitzt wie ein zerbrochenes Vögelchen auf dem Sofa, klagt, sie sei ohne Kraft, Motiv, Lebensmut und -sinn: «Wenn du da wärst, ginge es mir besser …» Aber als ich mir ausdachte, ihr eine Woche «Süden zu schenken», d. h. ihr vorschlug, 1 Woche Gran Canaria o. ä., wo man auch gemeinsam arbeiten könne – da hieß es plötzlich: «Ich bin ja nächsten Monat in Boston – also Karibik.» Und als ich dann «zum Austausch» sagte, ich müsse ohnehin demnächst nach London – also paar Tage gemeinsam London, hieß es: «Da bin ich nächste Woche.» Vor lauter «Antriebsschwäche» …
Hôtel Lutetia, Paris, den 2. Dezember
1. Tag in Paris. «Auftakt» gräßlich: Jimmy Baldwin ist tot. Ausgerechnet in Paris erfahre ich es, wo wir so oft und so ausgelassen zusammen waren. Wieder einer weniger – ein guter, enger, gar emphatischer Freund, mit und für den ich mancherlei Kämpfe bestand. Es war eine große Liebe, keine «Liebe».
Abends, beim «großen Empfang» zu Ehren von Moravias 80. – «tout Paris» bei Madame Fürstenberg – war Ledig geradezu beleidigt, daß ich Jimmy und den Tod erwähnte: «Ich will davon nichts hören.» Als schliche der Schatten ihn an.
Dort Botero kennengelernt – das Ganze der munteren Inge Feltrinelli zu danken, die mich mitnahm.
Moravia lieb, alt, taub. Erinnerte sich an meinen PEN-Abend in der Agnesstraße: «Der Fisch war so gut.» Mit Susan Sontag, mit Grass, mit Heiner Müller …
Botero: besonders sympathisch, unprätentiös. Langes (kritisches) Gespräch über den anderen Kolumbianer García Márquez.
Am Nachmittag zuvor in der Fragonard-Ausstellung, verblüfft über die «Modernität», eigentlich schon fast ein Impressionist, malt Licht wie Whistler und nur Form, oft kaum Gesichter. Sujet interessiert ihn offenbar nicht, «nur peinture ».
Hôtel Lutetia, Paris, den 3. Dezember
Nachmittags in der hinreißenden Ausstellung «Cinq siècles d’art Espagnol» im Petit Palais, von El Greco (und seinem finster-melancholischen Selbstportrait) über Goya (und wiederum sein kokett-freches Autoportrait vor der Staffelei) zu Picasso.
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