Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
erzählt, die ich längst von ihm kenne. Er leugnet – bei Pouilly Fumé –, daß Leben irgendeinen Sinn habe, gibt den Widerspruch zu, daß auch er ja «genießt», was andere – ob Leonardo oder Beethoven – geschaffen haben; daß also doch, in deren Leben, ein Sinn war? Obwohl er im Essen nur stochert, erzählt er strahlend von einem Luxusrestaurant, in dem er mit Matta aß.
Hôtel Lutetia, Paris, den 18. Dezember
Die Metro ein Rasiermesser, schneidet durch die französische Gesellschaft. Porte-de-la-Villette nur schwarzer Markt: Ananas und Avocados; Strohpüppchen und Stofftierchen; Blumen und Schals – jeder verkauft alles, mancher auch sich selber. Als Blinder hätte man es leicht, man kann sich nach Gerüchen und Geräuschen orientieren; Concorde: Wo aus dem Synthesizer wehe Klänge zittern, Tag für Tag dieselbe Tonfolge, geht’s rechts Richtung Mairie d’Issy, und wo es bei Châtelet nach faulen Bananen riecht, in Richtung …
Unseriosität des französischen Kultur- und Universitätsbetriebs. Daniel Rondeau bestellt im Le Bistro teuren Bordeaux (der garnicht getrunken wird), und meine Verlegerin Françoise Verny hält Champagner-Hof – aber die Autoren haben nix zu fressen, und die immerhin Professorin Scherrer muß durch die Uni rasen, um meine im Heizkeller gefundenen Brecht-Gedichte zu fotokopieren. Sie braucht einerseits nie da zu sein – hat aber dafür andrerseits keine Sekretärin, keinen Assistenten – nix. Und sie erzählt, daß die berühmtesten amerikanischen Soziologen hier 4 Studenten haben, für ein volles Jahr bezahlt werden und niemand sich um sie kümmert. Unbegreiflich.
Hôtel Lutetia, Paris, den 19. Dezember
Mein letzter Tag. Nach Sèvres ins Porzellanmuseum: ein ganzes Museum für mich alleine, kein einziger Besucher! Herrlichste Keramiken, eine Picasso-ähnliche Vase schon aus dem 16. Jahrhundert (spanisch-maurisch) und Trompe-l’œil-Teller und -Schalen, wie ich sie gestern in der Jugendstil-Abteilung im Musée des Arts Décoratifs sah, stehen hier – aus dem frühen 16. Jahrhundert: große Platten mit Schlangen, Fröschen, Kröten, Früchten. Herrlich.
Nachmittags Gedenk-Gottesdienst für Jimmy Baldwin in der American Church, ging mit Breyten Breytenbach, der mir sehr schwul (und sehr schön, aber auch elegant kokett im eng taillierten Mantel und zu betont lässig umschlungenem Schal) schien. Sehe ihn morgen, mein Abschieds-Abend.
20. Dezember
Rückflug von Paris. Es war ein besonders schöner, «voller» Abschieds-Abend mit Breyten Breytenbach. Anfangs in seinem Atelier, wo er mir seine zumeist scheußlichen Bilder zeigte; hält sich ernsthaft für einen Maler und erwartet 100.000 DM für ein Bild. Einzig interessant, daß er da seine zweifellos (zumindest latent) vorhandene Homosexualität ausleben kann – Riesenschwänze oder dreischwänzige Kerle beherrschen die Bilder –, die ich lügnerisch lobte.
Seine Frau ist deutlich «der Mann im Hause», eine harte, nur schwer zum Lächeln zu bringende Chinesin, die ihn ständig belehrt, kommandiert. Schade, daß sie stets dabei ist (sie wird wissen, warum …). Würde gerne mal einen Abend alleine mit ihm verbringen. Es war aber auch so ein schöner, herzlicher Abend (in einem billigen, lustigen, lauten, übervollen chinesischen Restaurant), den auch er deutlich genoß – was u. a. daraus hervorging, daß er geradezu darauf bestand, nach dem Essen noch ins «Select» zu gehen und etwas zu trinken. Stand abends spät dann auf meiner Terrasse und sagte Paris Au Revoir (hoffentlich nicht Adieu?!), das unter mir lag, seufzend und ächzend, wie eben nächtliche Riesenstädte «Laut geben», St. Sulpice und Panthéon noch angestrahlt.
Es war der schönste Paris-Aufenthalt, den ich je hatte – wobei mich etwas ängstigt, daß er – «in größer» – meinem allerersten vor ca. 30 Jahren ähnelte. Positives macht mir meist angst.
1988
Kampen, den 2. Januar
Die vergangenen Feiertage waren kleinbürgerlich-gemütlich, habe mein «Pariser Tagebuch» für die ZEIT geschrieben – in der sich eine ganz unerhörte Notiz der dummen Herrenreiterin Dönhoff fand. «Peinlich» überschreibt sie eine Glosse im «Läßliche-Sünden»-Vokabular (Sünden sind ja läßlich und zu vergeben!) zur Affaire Höfer; aber peinlich meint nicht etwa, was Höfer für Naziartikel geschrieben hat – sondern peinlich findet die Kuh, daß man ihm seinen Frühschoppen wegnahm. Absurd, wenn man sich erinnert, wie dieselbe Person mit Riesenkugeln
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