Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Ging zu Fuß durchs winterlich-grünklare Licht, unter dem die letzten braunen Riesenlappen der Platanen zu Haufen zusammengekehrt werden wie die Nerz-Stürze in der feinen Rue du Faubourg Saint-Honoré (in der ich abends 18 Uhr eine kleine-feine Vernissage der Galerie Pertin – Barock-Handzeichnungen «wie Fragonard» – besuchte). Dann die wahnsinnige Lichterkette der Champs-Élysées mit den weißgespritzten Riesentannen am rond point . Aber: den Nachmittag bei Adami. Märchenwohnung, Postkartenblick auf Sacré-Cœur, McIntosh-Möbel, herrlich farbig exakt exekutierte Bilder, sehr charmanter Mann («Liebe auf den ersten Blick»); schenkte mir spontan 1 Litho und widmete mir einen Katalog.
Boule-spielende alte Männer in Baskenmützen im Hintergarten (an der Treppe zu Sacré-Cœur), das Bullaugenfenster mit der Mauer «wie ein Bild» dahinter, im Fenster eine afrikanische Plastik.
Hôtel Lutetia, Paris, 4. – 8. Dezember
Im Quai-d’Orsay-Museum: ein Museum der «Flaneur»-Überraschungen – ob man erotisch-intime Akte des «Bauernmalers» Millet entdeckt oder von Corot eine Jeune Femme à la robe rosé . Selbst ein Delacroix («Chasse aux Lions») besteht nur aus Farbe und Form, keine Konturen, keine Gesichter. Manets «Berthe Morisot à l’éventail», 1872 (Schwägerin): der Schleier, der vom Hut gezogen wird wie eine grimassierende Maske, Totenkopf, Vanitas-Bild.
Warum ist Rodins Torso so viel eindringlicher als die etwas glatten, ausgearbeiteten Skulpturen?
Gefühl des Schwebend-schwindelig-Unheimlichen beim Gang über das Glas im Musée d’Orsay, darunter beleuchtet die Oper, das Zentrum von Paris. Über der Jugendstilkuppel der Galerie Lafayette statt unter.
Nationalismus der Franzosen: kein Franz von Stuck, kein Liebermann (aber viel 6.klassiges Französisches), kein Menzel, aber Fernand Cormon: «Die Schmiede». Schinken.
Nochmal bei Fragonard. Der ungewöhnlich heitere Diderot. Die Farben des Whistler-Lichts. Impressionist avant la lettre. (Übrigens auch Goyas «Le Pantin» – dasselbe Licht, fast schon 19. Jahrhundert.)
Zum Drink in Inge Feltrinellis wunderschöner Wohnung, «neben» der ehemaligen von Sartre am Place Saint-Germain, Kirche steht quasi im Salon. Perfektes pied-à-terre . Inge: «Er lügt, wenn ich den Mund aufmache»; «Ledig war gestern bei Simone de Beauvoir zum Essen, dumme Gans, vollkommen out » (gemeint war wohl Simone Gallimard!); «Ich war gestern in einem Vortrag von Sartre» (????). Ich hatte das Abendessen mit Ledig, Christian Bourgois etc. wegen Gerd, der kurz in Paris war, abgesagt, wir aßen schön alleine bei Boffinger. Danach noch mit Ledig und Jane (die hier um die Ecke diniert hatten im Récamier) 2 Flaschen Champagner im Tres Moille.
Noch einmal die Spanien-Ausstellung: das Greco-Bild kein Selbstportrait, sondern «un caballero». Hoch sonderbar: Jusepe de Riberas stillender bärtiger Mann.
Le-Corbusier-Ausstellung. «Voiture Matinium»: ein VW aus Holz. Das Flugzeug mit der lebenden Figurine auf der Einstiegtreppe und den Wolken. Palais des Soviets, Centrosojus, zu Fuß vom Pompidou die ganze rue du Faubourg Saint-Honoré (ab Madeleine Faubourg Saint-Honoré) durch einen Luxus-Strom schwimmend bis zum Élysée.
Sonntag nachmittag Versailles. Das Gitter vorm Schloß, an dem sie rüttelten. Der künstliche Bauernhof der Marie-Antoinette.
Hôtel Lutetia, Paris, den 9. Dezember
Bis mittags Kampf um mein Geld an der École. Schmählich.
Nachmittags bei Botero im Atelier, das erstaunlich riesig nach winzigem Eingang in der rue de Dragon, große Wohn- und Atelierräume. Arbeitet an mehreren Bildern auf einmal, ca. 10 Tage an einem Bild, jedes erstaunlich ausgearbeitet, was man erst sieht, wenn man die Vorphasen gesehen hat, wie Skizzen in Öl. Macht keine Skizzen, keine Lithos (mein César-Daumen steht bei ihm!), aber scheußliche Skulpturen.
Abends Essen mit 2 lustigen has-beens , Georg Stefan Troller und Erwin Leiser. Letzterer eitler (weil erfolgloser?) denn je, Troller nett, aber von Beruf Zeitgenosse, weiß nur zu erzählen, wen er alles kannte – von der Piaf zu Pound –, ohne zu merken, daß er sie natürlich nicht kannte, sondern ihnen begegnet ist.
2stündiges Interview mit Nouvel Observateur in einer Art Privat-Restaurant. Sie wissen nichts von Deutschland, alle Namen, Titel, selbst Zusammenhänge sind ihnen fremd.
Begegnung mit Polac höchst sympathisch, schnell, witzig, dabei ernst. Werde nächste Woche in seiner Heidegger-Sendung
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