Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
auftreten.
Abend in Ronconis Shakespeare-Inscenierung, Kaufmann von Venedig im Théâtre Odéon mit der schönen ausgemalten Kuppel. Seltsam schwere, zu lang gedehnte Aufführung, deren Sprache (in meinen Ohren?) wie Racine klang. Schauspieler konventionell: Hände nach außen gedreht – ratlos; ans Herz gepreßt – traurig; ineinander schlagend – Wut; ausgebreitete Arme gegen die Wand gestemmt – verzweifelt. Ging in der 2. Pause in ein herrliches Jugendstil-Restaurant «La Gare de Paris» am Boulevard du Montparnasse essen. Früh mit Erkältung und Fieber zu Bett. Früh = Mitternacht.
Hôtel Lutetia, Paris, den 10. Dezember
Langer Vormittag mit schönem deutschen Frühstück (Wurst und Pâté von der Terrasse, Tauchsiedertee), Sonne über Paris. Lunch mit Edmund White. Nett. Schreibt eine Genet-Biographie, kannte den Rennfahrer, in den Genet verliebt war, als ich ihm (daher die Widmung, die ich habe) den Porsche besorgen sollte. Sprachen über García Lorca und die neue Lorca-Biographie, die nun endlich Lorcas Homosexualität nicht mehr verschleiert. War aber nach 1 Stunde leicht ermüdet, die Welt unter dem Aspekt schwul–nichtschwul zu betrachten, und zucke auch vor Indiskretionen – «Mein 27jähriger Lover ist so toll im Bett» – zurück. Mag man nicht.
Hôtel Lutetia, Paris, den 11. Dezember
Lunch mit Liehm. Fraß Wildente wie ein Barbar – «Barbar-Ente» statt Barbarie … «Ich liebe das Blut an den Knochen», das ihm die Lefzen runterfloß, während er von Brodsky, Kundera, Lyrik und Heidegger quasselte. Im neuen Heft von «Lettre International» irrer Bericht über Majakowskis Tod von seiner letzten Geliebten, Moskauer Schauspielerin. Assoziation zu García Lorca – und wieder zu Baldwin.
Danach zum Kaffee zu Maurice Nadeau. Das kümmerliche Büro, wo zwischen Staub, Zeitungstürmen, Buchstapeln, qualmenden Aschenbechern und Tassen mit kaltem Kaffee ein alter Mann an einer noch älteren Fotokopiermaschine stand: Maurice Nadeau. So würde keiner der deutschen 25jährigen Jungredakteure, die in ihren Armani-Pullovern ihr kleines Talentlein spitzen, arbeiten. An seiner «Quinzaine Littéraire» Mitarbeit ohne Honorar! Auflage 25.000.
Morgen früh – die Worte von Saint-Simons Kammerdiener «Monsieur, stehen Sie auf – Sie haben große Taten zu vollbringen» fälschend – ausschlafen und Flohmarkt.
Hôtel Lutetia, Paris, den 14. Dezember
Gestern abend mit Jutta Scherrer im Chez Francis, herrliches Essen, ich saß mit Blick auf den erleuchteten Eiffelturm. Am interessantesten war, was sie von Susan Sontag erzählte, die sie wohl in New York näher kennengelernt hat: Sie sei eine verbitterte, inzwischen unansehnliche (??; finde ich nämlich nicht) Frau, die in ihrer Einsamkeit erstickt; sie habe ihr vorgeschlagen, mit ihr zu leben. Auch lebe sie in bedrückenden finanziellen Verhältnissen, muß aus ihrer winzigen Wohnung ausziehen, weil sie die Miete nicht zahlen kann, und Vorträge in Idaho halten.
Schämte mich fast meiner komfortablen Lebensumstände.
Heute Museumstag: Louvre, in den man «verkehrt herum» reinkriechen muß wegen Bauarbeiten. So geht man auch die Kunst «verkehrt herum» entlang. Zuerst die römischen und französisch-romantischen Skulpturen, dann die Spanier mit herrlichen Utrillos, Velázquez, Goyas und Grecos; dann die «Collection de Beistegui» (1942 geschenkt) mit Ingres, Meissonier und Rubens, und dann erst «geht es los» zu den Tiepolos, Guardis, düsteren Magnascos und lichten Caravaggios. Dann steht man plötzlich, falsch rum, allein! in dem riesigen Rubens-Saal. Wurde nervös, weil ich mein Lieblingsbild nicht fand: «Le Pérugin, 1446 – 1523, Apollon et Marsyas», der früher bescheiden in einem Nebenraum hing und jetzt neben der Mona Lisa und zwischen anderen Leonardos. Es ist «versetzt» worden und wirkt prompt nicht mehr so bescheiden.
Louvre ziemlich leer, Ruhe für La Tour oder Watteau oder Rembrandt, den schweigend manirierten Portraits von Bellini oder Botticelli. Sogar alleine vor der Mona Lisa. Keine Japaner!
Dann in der Orangerie. Überwältigt – so habe ich die nie gesehen – von den 8 Monet-Tafeln «Die Seerosen» (die er der Republik zum Waffenstillstandstag 1918 schenkte).
Hôtel Lutetia, Paris, den 15. Dezember
Gestern Abendessen (bei Récamier) mit Cioran, bezaubernder Abend. Sonderbar eleganter Nihilismus, eine Skepsis, die lächelt. Gelegentlich leicht greisenhaft, wenn er sich etwa mit Essen beschmiert oder Geschichten
Weitere Kostenlose Bücher