Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
mit seinen geliebten alten Möbeln verbrachte. Biedermeier, Jugendstil, „schau mal, Judith, das ist Gründerzeit. Damals hatten sie alle solche Vertikos, so wie wir heute alle die Schrankwand haben.“
Der Geruch von Terpentin und Bienenwachs, das Geräusch der Schleifmaschine, überdeckt vom Rattern des in greifbarer Nähe vorbeifahrenden Zuges, der den Boden in der Werkstatt vibrieren lässt. Judith fühlte sich in die Vergangenheit versetzt, sah Mutter, wie sie mit Freunden unter dem Apfelbaum saß, „Judith, bring deinem Vater mal ein Bier.“
Judith öffnete das quietschende, grün gestrichene Gartentor und pfiff ihren Pfiff. So was wie Hui-ich-bin-da. Das Lachen unbeschwerter Sommertage war längst verklungen. Der Rittersporn blühte noch nicht und würde vielleicht auch nicht blühen, oder man würde ihn nicht sehen. Der Garten, ein einziges zugewuchertes Chaos. Oh Papa!
„Papa!“ Wo war er? „Papa, huhu, Juditha ist da!“
Sie schleppte den schweren Ölschinken zur Werkstatt. Papa war doch nie weg. Warum hast du nicht vorher angerufen?, fragte sie sich. Sie drückte die verrostete Klinke, die Tür war nicht verschlossen. „Papa?“
Und da lag er. Zusammengesackt auf einem halb gepolsterten Sofa. In dem ungefähr 20 Quadratmeter großen Raum roch es wie im Raubtierkäfig im Tierpark. Sie lehnte den Ölschinken an die Wand, bahnte sich ihren Weg über Möbel- und Polsterteile und riss das Fenster zum Bahndamm auf. Neben dem Sofa lag eine leere Flasche Korn.
Ach Papa!
Sie schloss die Tür und ging den kurzen, bemoosten Weg zur Datscha. Hier sah es aus, wie nach einem Selbstmordattentat. Das Bett in der kleinen Nische war ungemacht und die rosa geblümte Bettwäsche bettelte seit Wochen um eine Wäsche. Das gesamte Geschirr stand mit angetrockneten Resten in der Spüle der kleinen Küchenzeile. Auf der Couch lagen Jeans, T-Shirts und schmutzige Unterwäsche auf einem Haufen, auf dem Tisch standen eine geöffnete Konservendose mit einem Löffel darin und ein überquellender Aschenbecher.
Okay. Sie atmete durch.
Fenster auf. Bett abziehen, schmutzige Wäsche in die Waschmaschine, Müll einsammeln. Wasser in die Spüle laufen lassen, alles einweichen. Und dann kochte sie Kaffee. Einen extra starken, so wie Papa ihn liebte. Am liebsten hätte sie ihre Scheißmutter angerufen und ihr befohlen, herzukommen und sich die Bescherung einmal anzuschauen. Ihre Wut gluckerte genauso laut wie die verkalkte Kaffeemaschine.
Sie wusch zwei Becher ab, packte drei Löffel Zucker in einen und goss den Kaffee ein. Mit dem Kaffee bewaffnet, machte sie sich auf den Rückweg in die Werkstatt.
„Papa, wach auf, Juditha ist da!“, sagte sie und rüttelte ihn sanft an der Schulter. Er kam murrend zu sich.
„Trink, Papa, ich habe dir Kaffee gemacht“, sagte sie und hielt ihm den duftenden Becher unter die Nase.
„Juditha, Kleines!“ Er setzte sich auf. „Wie spät ist es? Ich muss wohl eingeschlafen sein“, sagte er.
„Es ist Mittag, Papa.“
Sie übersah geflissentlich die Flasche, stand auf und trat zum Fenster, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich ein wenig zu richten.
„Was machst du denn hier, Kleines?“, fragte er und schlürfte dankbar den heißen Kaffee.
„Ich habe dir Arbeit mitgebracht, Paps“, antwortet sie.
„Ich habe mehr Arbeit als genug“, sagte er. „Schau mal, Juditha, ist das nicht ein tolles Biedermeiersofa?“ Er stand auf und zeigte auf die halb ausgebauten Polster. „Muss ich Ende der Woche fertig haben.“
„Womit beziehst du es?“ Judith wollte ihr Interesse zeigen.
Er ging zu seinem großen Arbeitstisch, auf dem seine Werkzeuge ordentlich aufgereiht lagen, die Pinsel, Pinzetten und Schrauber in alten Blechdosen standen. An seinem Pinboard darüber hing ein Fetzen gelbblau gestreifter Brokatstoff mit gelben Bourbonlilien. Er holte ihn von der Wand und gab ihn ihr.
„Klassisch“, sagte er.
„Hast du etwa einen Kunden mit Geschmack?“, fragte sie. Das war ein alter Scherz zwischen ihnen. Viel zu oft hatten sich bei ihrem Vater die Nackenhaare hochgestellt angesichts der verschrobenen Wünsche seiner Kunden. Er würde nie reich werden mit seiner Arbeit, weil er viel zu viele Kunden nach Hause schickte. „Wenn Sie diesen Weichholzschrank blau haben wollen, dann müssen Sie ihn schon selbst streichen.“
Papa hatte eine Berufsehre und vor alten Möbeln mehr Respekt als vor den Menschen. „Möbel, Juditha, lügen nicht“, hatte er mal gesagt.
Während sie ihrem
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