Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
Vater von ihrem neuen unmöglichen Job erzählte, packte sie den Ölschinken aus und präsentierte ihn wie eine Schauspielerin die Pointe an der richtigen Stelle.
„Wahnsinn! Guck dir diese Arbeit an, Juditha!“ Er hatte ihr das Bild aus den Händen gerissen und war damit zum Fenster getreten. „Waschechter Klassizismus, schau mal hier, diese feinen Intarsien. Kind, das ist eine wundervolle Arbeit.“ Judith war zu ihm getreten und betrachtete den Rahmen genauer. Das, was wie ein dünner schwarzer Strich auf dem Kirschholzrahmen ausgesehen hatte, waren hunderte feiner Quadrate aus Ebenholz und Perlmutt.
„Kannst du das richten, Paps?“
„Ob ich das kann? Na und ob ich das kann. Da hat man doch wieder eine Tischlerehre.“ Ihr Vater schwebte auf Wolken. Er hatte das Bild auf seine Werkbank gestellt und schaltete eine Arbeitslampe an, die er auf das Bild richtete. Mit ihrem Vater konnte man nicht mehr reden. Er war vollkommen fasziniert von diesem Rahmen, es war, als ob er sie vergessen hätte. Sie schlich sich an ihn heran und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hau ab, Papa.“
„Mach’s gut, Juditha, nimmʼ dir ein paar Blumen mit“, sagte ihr Vater, ohne den Blick von dem Bilderrahmen zu wenden. Ihr war nicht nach Blumen.
Auftrag von Sabine
Als es klingelte, warf Alice den kleinen blauen Gummiball, mit dem sie die Beweglichkeit ihrer Hände trainierte, in die Schublade. Der Regen rann an den Fenstern herunter, als ob die Nachbarin im dritten Stock einen Eimer Wasser ausgeschüttet hätte. Trotz der starken Cortisontabletten spürte Alice die Feuchtigkeit wie eine nagende Ratte in den Gliedern.
„Alice, Schätzchen, danke, dass du Zeit für mich hast“, sagte die Besucherin, als Elke ihr die Tür zu Alices Büro öffnete. Alice deutete mit der Hand auf den grünen Designerstuhl: „Es ist lange her, Sabi.“ Mit einem kühlen Lächeln maß sie die Frau, die sich jetzt vor ihrem Schreibtisch niederließ. Himmel, ein altes Mädchen, dachte Alice angesichts der hennarot gefärbten Haarpracht, die Sabine zu einem lockeren Knoten mit Unmengen von bunten Haarklammern zurecht gewurschtelt hatte.
„Tee oder Kaffee?“, fragte Elke, die neben dem grünen Designerstuhl stehen geblieben war.
„Haben Sie Roibusch?“ Elke nickte und verließ mit gesenktem Blick das Büro. Die Besucherin spielte mit den Perlen einer dreireihigen, rot-blauen Holzkette, die über einer weiten, blaugrün changierenden und mit Spitzen verzierten Pannesamtjacke prangte.
„Du sagtest am Telefon, du brauchst Hilfe“, sagte Alice und betrachtete fasziniert die faltigen Hände mit den vielen Weißgold-Ringen an den brombeerfarben lackierten Fingern. Unmöglich, dachte sie, angesichts des fetten Rubins auf Sabines Mittelfinger.
Eigentlich hatte sie Sabine nie leiden können. Oder nein, das stimmte so nicht. Eigentlich hatte sie Sabine nie ernst genommen. Sabine Sprengler, wenn sie sich richtig entsann, waren sie beide im gleichen Alter, war die Ehefrau von Professor Dr. Siegfried Sprengler. Die Witwe, verbesserte sich Alice in Gedanken selbst. Wie eine trauernde Witwe sah sie nicht aus. Aber eindeutig besorgt. Und nervös, stellte Alice fest. Sie hatte Sabine verdrängt aus ihren Gedanken, so, wie sie alles versuchte zu verdrängen, was zu ihrem gemeinsamen Leben mit Bernie gehört hatte.
„Den Blödsinn glaubst du doch selbst nicht“, hatte Elke gestern Abend zu ihr gesagt. Natürlich hatte sie Elke widersprochen. So, wie sie Elke seit über 50 Jahren widersprach. Und natürlich hatte Elke Recht. Sie hatte Sabine vergessen. Weil sie so unbedeutend war. Weil sie in ihrem Leben nie eine Rolle gespielt hatte. Weil sie strunzdämlich ist, entschied Alice und lächelte ihrer Besucherin aufmunternd zu.
„Ja“, sagte Sabine und kaute dabei an einem unsichtbaren Nietnagel, „es ist lange her. Weißt du noch, wie wir diese herrlichen Gartenfeste gefeiert haben?“
Nein, dachte Alice und nickte. Für einen Moment sah sie Bernie, wie er sich unter einer weiß blühenden Kastanie lächelnd über sie beugte und ihr ein Glas Gin Tonic reichte. Sie hörte ein Kinderlachen und sah Linda Sprengler, wie sie den kleinen Nils auf der Schaukel immer höher und höher in die Luft beförderte. Sie sah Linda. Nicht Sabine. Wo war Sabine gewesen? Da waren Sigurd und Bernie, da waren Linda und Nils. Und irgendwo in der Ecke hockte ein kleines Mädchen, das sich mit Farbe bekleckste. Wo war Sabine? In der Küche?
Alice entsann sich, dass
Weitere Kostenlose Bücher