Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
genau wie Nils die leicht gebogene Sprenglersche Nase und alles an ihr signalisierte: Vorsicht, sensible Künstlerin. Judith konnte sie auf Anhieb nicht leiden. Sie hatte so etwas Verpeiltes an sich, was sie irritierte. Unter ihren graugrünen Augen, die von hängenden Lidern überschattet wurden, schimmerten dunkelblaue Augenringe. Sie sah krank aus. Todkrank.
Nils nahm seine kleine Schwester in den Arm und stellte Judith vor: „Das ist Judith, der neue Stern am Berliner Zeitungshimmel.“ Na bravo! Judith war zwar nicht von Carlotta, aber von ihrem Haus total begeistert. Was für ein herrlich verwunschenes, ein bisschen heruntergekommenes Haus, mitten in Juan-les-Pins. Das Haus war wie ein U gebaut und von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Durch einen kleinen, ungepflegten Garten gelangte man in die Küche des Hauses, offensichtlich Carlottas Arbeitsplatz. Und damit meinte Judith nicht den Herd oder die Spüle, sondern die Staffelei am Fenster. Der Mittelpunkt des Hauses war ein langgestreckter Raum mit einem Kamin, der Boden war schwarz-weiß gefliest und außer einem großen Esstisch mit nicht zusammenpassenden Stühlen gab es dort keine weiteren Möbel. Hinter diesem riesigen, fast leeren Zimmer führte ein Durchgang zu einem Bad und zwei Zimmern, wovon sie das eine als Gästezimmer nutzen konnten.
An den Wänden hingen Tapeten aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts und genauso roch es hier auch: verstaubt. Dazu trugen sicher auch die Bücherwände bei, die überall im Haus bis an die Decke reichten. Wo zum Teufel bewahrte sie eigentlich ihre Werke auf, sie war schließlich Malerin? Judith sah nicht ein einziges Bild von ihr, außer der fast leeren Leinwand auf der Staffelei in der Küche.
Durch deckenhohe Verandatüren gelangte man in den atriumähnlichen Innenhof zwischen den beiden Hausflügeln. An der Frontseite war der Hof begrenzt von einer Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor, durch das man in den Garten kam, der das ganze Haus umschloss. Die Mauer war überwuchert mit wildem Wein. Der Hof war gepflastert, aus den Ritzen der Steine spross Unkraut. In der Mitte des Hofes befand sich ein Brunnen.
Wenn sie gedacht hatte, dass es ein Abendessen im Salon geben würde, hatte sie sich gründlich getäuscht.
„Ich kann nicht kochen“, sagte Carlotta. Judith war nicht überrascht. Carlotta rief einen Pizzaservice an. Pizza. In Frankreich. Na, schönen Dank auch. Sie nahmen die Pizza im Atriumhof ein, saßen unter den mit wildem Wein überdachten Gang.
Judith trank mehr Rotwein, als ihr gut tat, von Rotwein bekam sie immer Kopfschmerzen. Die Stimmung zwischen den beiden Geschwistern war angespannt. Sie plauderten nur Belangloses, Judith merkte, dass sie unbedingt etwas besprechen wollten und fühlte sich wie ein Fremdkörper zwischen ihnen. Also plante sie ihren Abgang und fing an, über Kopfschmerzen zu klagen. Nils brachte sie ins Bett.
Wunderbar, so konnte sie die beiden belauschen und vielleicht noch ein wenig mehr erfahren. Ihr Horchposten am Fenster erwies sich zunächst als wenig ergiebig. Denn die beiden hatten die Stimmen gesenkt, so dass bei Judith nur ein undeutliches Murmeln ankam. Aber das Murmeln wurde immer aufgeregter, böser. Ja, böse war der richtige Ausdruck.
„Tante Lindi, Tante Lindi“, immerzu hörte sie diesen Namen.
„Weißt du eigentlich, was zu Hause los war, in all den Jahren? Du hast doch nur die Augen geschlossen und nichts sehen wollen.“ Die Worte kamen aus Carlottas Mund wie Pistolenschüsse. „Tante Lindi. Wir waren ja nur geduldet. Es gab nur Vater, Tante Lindi und dich. Nils, der Kronprinz.“
„Hör doch auf, Charly“, sagte Nils, „das stimmt doch gar nicht. Mama hat sich doch um dich viel mehr gekümmert als um mich.“
„Hast du dich mal gefragt, warum?“
„Was willst du damit andeuten?“
„Ich will nichts andeuten, Nils, du bist blind geboren. So blind, dass du nicht gesehen hast, wie unsere Mutter wie eine Hausangestellte behandelt worden ist.“
„Blödsinn!“, sagte Nils.
„Blödsinn? Von wegen. Das hat sich erst geändert, als die Mama und Linda ein Verhältnis miteinander angefangen haben.“
„Spinnst du?“
„Nein, ich spinne nicht, ich habe sie miteinander erwischt. Da warst du schon aus dem Haus. Jawohl, ich habe sie zusammen im Bett erwischt. Mama und Linda.“
„Du bist doch nicht recht bei Trost“, sagte Nils.
„Ach, ja? Ich bin morgens nach Hause gekommen und da lagen sie zusammen im Bett, meine Mutter
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