Tai-Pan
wußte, daß der Wind in diesen Gewässern mit erschreckender Plötzlichkeit umspringen oder eine heftige Bö aufstehen konnte. Da das Schiff so viel Segel gesetzt hatte, befand er sich in einem solchen Fall in großer Gefahr: Der Wind konnte ihm die Segel wegreißen, bevor man Zeit hatte, sie zu reffen, oder er konnte ihm die Maste brechen. Riffe und Untiefen, die hier sehr zahlreich waren, konnten den Rumpf des Schiffes aufschlitzen. Von diesen Gewässern gab es noch keine Seekarten. Aber Struan wußte auch, daß nur Geschwindigkeit sie in Sicherheit zu bringen vermochte. Und Joss.
»Gott im Himmel!« Mauss starrte durch das Fernglas. »Es ist der Lotus! Der Silberlotus!«
Struan entriß ihm das Fernglas und richtete es auf die Flagge, die an der Mastspitze der riesigen Dschunke flatterte: eine silberne Blüte auf rotem Feld. Kein Zweifel. Es war der Silberlotus, die Flagge Wu Fang Tschois, des Piratenkönigs, von dessen Sadismus man sich Furchtbares erzählte. Seine zahllosen Flotten plünderten und beherrschten die Küsten des ganzen südlichen Chinas und trieben auf Tausende von Meilen nördlich und südlich Tribute ein. Man nahm an, daß sich sein Hauptquartier auf Formosa befand.
»Was treibt denn Wu Fang Tschoi in diesen Gewässern?« fragte Mauss. Wieder verspürte er diese seltsame Mischung von Furcht und Hoffnung in sich aufsteigen. Dein Wille geschehe, o Herr.
»Das Silber«, antwortete Struan. »Es müssen unsere Silberbarren sein, denn sonst würde Wu Fang Tschoi sich niemals bis hierher vorwagen, wo unsere Flotte so nah ist.«
Jahre hindurch hatten die Portugiesen und alle Kauffahrer Wu Fang Tschoi Tribut bezahlt, um mit ihren Schiffen ungehindert passieren zu können. Dieser Tribut war billiger als der Verlust der Schiffe, und seine Dschunken hielten die Gewässer des südlichen Chinas frei von anderen Piraten – jedenfalls die meiste Zeit. Als aber im vergangenen Jahr das Expeditionskorps eingetroffen war, hatten die britischen Händler ihre Tributzahlungen eingestellt. Darauf hatte eine von Wu Fangs Piratenflotten begonnen, die Gewässer und die Küste um Macao unsicher zu machen und die Schiffe zu plündern. Vier Fregatten der Royal Navy hatten die meisten dieser Piratendschunken aufgestöbert und vernichtet und waren jenen gefolgt, die in die Biasbucht geflohen waren – einen Piratenhafen an der Festlandsküste vierzig Meilen nördlich von Hongkong. Dort hatten die Fregatten die Dschunken und Sampans der Piraten zerstört und zwei Piratendörfer eingeäschert. Seitdem hatte sich die Flagge Wu Fang Tschois niemals mehr in der Nähe gezeigt.
Auf dem Flaggschiff der Piraten krachte ein Geschütz, und erstaunlicherweise drehten alle Dschunken bis auf eine in den Wind, zogen die Großsegel ein und ließen nur die kurzen Achtersegel stehen, damit die Schiffe noch dem Ruder gehorchten. Dann löste sich eine kleine Dschunke aus der Flotte und nahm Kurs auf die China Cloud.
»Ruder in Lee!« befahl Struan, und die China Cloud drehte sich in den Wind. Die Segel flatterten unruhig, das Schiff verlor an Fahrt und blieb fast regungslos liegen. »Halt sie im Wind!«
»Jawohl, Sir!«
Struan beobachtete die kleine Dschunke durch das Fernglas. An der Mastspitze wehte eine weiße Flagge. »Himmel noch mal! Was haben die denn vor? Chinesen bedienen sich doch sonst nie einer Parlamentärflagge!« Das Schiff kam näher, und Struan war noch verblüffter, als er einen gewaltigen schwarzbärtigen Europäer erblickte, der schweres Seemannszeug trug, ein Entermesser am Gürtel hängen hatte und die Dschunke steuerte. Neben dem Mann stand ein junger Chinese, reich gekleidet, in einem Gewand aus grünem Brokat, Hosen aus dem gleichen Stoff und weichen schwarzen Stiefeln. Struan sah, wie der Europäer sein langes Fernrohr auf die China Cloud richtete. Nach einem Augenblick setzte der Mann das Fernrohr ab, lachte heftig auf und winkte. Struan reichte Mauss das Fernglas. »Was halten Sie von dem Mann?« Er beugte sich zu Kapitän Orlow vor, der ein Fernrohr auf die Dschunke gerichtet hatte. »Käpt'n?«
»Ein Pirat, soviel steht fest.« Orlow reichte Robb sein Fernrohr. »Damit bestätigt sich noch ein Gerücht, daß nämlich Wu Fang Tschoi Europäer in seiner Flotte hat.«
»Aber warum haben sie alle die Segel eingeholt, Dirk?« rief Robb verwundert.
»Das wird uns der Abgesandte sagen.« Struan trat bis an den Rand des Achterdecks. »Mister!« rief er Cudahy zu. »Halten Sie sich bereit, ihm einen Schuß vor den
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