Tai-Pan
möchte hundert Guineen wetten, daß er genau das als Grund angeben wird«, meinte Longstaff. Er ließ sich in einem Sessel nieder und streckte die Füße aus. »Sergejew ist in St. Petersburg ein wichtiger Mann. Als Kind habe ich fünf Jahre dort gelebt – mein Vater war Diplomat am Zarenhof. Sind alle Tyrannen. Der gegenwärtige Zar, Nikolaus I. ist dafür typisch.«
»In welcher Hinsicht ist Sergejew ein wichtiger Mann?« fragte Struan. Es wunderte ihn, daß Longstaff während all der Jahre, in denen er ihn kannte, ihm gegenüber St. Petersburg niemals erwähnt hatte.
»Er besitzt unermeßliche Ländereien. Außerdem ist er natürlich mit dem Zaren verwandt. Diese Leute ›besitzen‹ Zehntausende von Leibeigenen und Hunderte von Dörfern, wenn ich mich recht erinnere. Ich entsinne mich, daß mein Vater vom Fürsten Sergejew sagte – es muß die gleiche Familie sein –, daß er am Zarenhof dem inneren Kreis der Berater angehörte und einer der mächtigsten Männer in Rußland war. Immerhin seltsam, ausgerechnet hier einem solchen Mann wieder zu begegnen, nicht wahr?«
»Glauben Sie, daß Rußland versuchen wird, sich hier in Asien einzumischen?«
»Ich möchte behaupten, daß dieser Mann zu bedeutend ist, als daß nur ein Zufall ihn hierher führen könnte. Jetzt, nachdem der Status quo im Mittleren Osten wiederhergestellt und die Dardanellen-Frage geregelt ist, taucht plötzlich ein Großfürst hier auf!«
»Meinen Sie, es gäbe da irgendwelche Verbindungen?«
Longstaff lachte leise. »Die Regelung im Mittleren Osten hat dem vordringen Rußlands nach Westen einen Riegel vorgeschoben; aber es kann es sich leisten, in Ruhe abzuwarten. Frankreich ist kriegslüstern, und das gleiche gilt für Preußen. Metternich, dieser österreichisch-ungarische Teufel, hat Schwierigkeiten damit, die italienischen Besitzungen am Zügel zu halten; außerdem ist er Frankreich und England böse, daß sie die Belgier darin unterstützen, auf Kosten der Niederländer eine eigene Nation zu bilden. Wegen der spanischen Erbfolge wird es zwischen England und Frankreich zu großen Auseinandersetzungen kommen – die spanische Königin ist zwölf Jahre alt und soll schon bald verheiratet werden. Louis Philippe möchte seinen Kandidaten als ihren Gemahl sehen, aber wir können bei einer Verbindung der Throne Frankreichs und Spaniens nicht ruhig zusehen. Preußen strebt danach, seine Herrschaft über Europa auszudehnen, die jedoch Frankreich im Verlauf seiner Geschichte stets als sein ausschließliches und ihm allein zustehendes Recht betrachtet hat. Ach ja«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »Rußland kann es sich leisten zu warten. Wenn erst einmal das Ottomanenreich auseinanderbricht, wird es in aller Ruhe den ganzen Balkan an sich reißen – Rumänien, Bulgarien, Bessarabien und Serbien – und so viel von Österreich-Ungarn, wie es gerade noch verdauen kann. Selbstverständlich können wir das nicht zulassen, und so wird ein allgemeiner Krieg die Folge sein, falls es sich nicht auf eine vernünftige Regelung einläßt. So stellt also, von Rußland aus betrachtet, Europa gegenwärtig keine Gefahr dar. Rußland ist zwar wirksam abgeriegelt worden, aber das macht nichts. Seine Politik war in der Vergangenheit stets darauf ausgerichtet gewesen, durch Arglist zu erobern – die Führer eines Landes zu bestechen, auch die Führer der Opposition, falls es eine gab. Es legt es darauf an, sich durch ›Einflußsphären‹ und nicht durch Kriege auszudehnen, dann die Führer zu beseitigen und die Völker zu schlucken. Wenn es vom Westen her keine Gefahr für Rußland gibt, wird es meiner Ansicht nach seine Blicke nach Osten wenden. Denn auch Rußland glaubt an eine göttliche Sendung auf Erden, auch Rußland glaubt – ebenso wie Frankreich und Preußen –, daß es von Gott dazu auserkoren ist, die Welt zu beherrschen. Nach Osten zu steht keine Großmacht zwischen Rußland und dem Stillen Ozean.«
»Mit Ausnahme Chinas.«
»Und wir beide wissen, daß China schwach und hilflos ist. Aber das ist für uns kein Vorteil, nicht wahr? Bei einem schwachen China und einem sehr starken Rußland könnte dieses vielleicht beherrschenden Einfluß auf China gewinnen, meinen Sie nicht?«
»Gewiß«, antwortete Struan, »das wäre nicht zu unserem Vorteil. Denn dann könnte es uns nach Belieben das Messer an die Kehle setzen. Und Indien auch.«
Die beiden Männer verfielen in Schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken verloren.
»Warum aber
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