Tai-Pan
sollte Rußland einen so wichtigen Mann hierher schicken?« fragte Struan.
»Um uns auf den Zahn zu fühlen. Historisch betrachtet ist die Antwort völlig klar. Rußland sät immer Unzufriedenheit aus, und es wird mit dieser Methode fortfahren, bis es die ihm seiner Meinung nach zustehenden natürlichen Grenzen gefunden hat. Es grenzt an die Türkei an – in der Türkei sind Unruhen. Es grenzt an Indien an – auch dort ist es unruhig. Es grenzt an China an – jedenfalls soviel wir wissen –, und so muß eben auch dort für Unruhe gesorgt werden. Sergejew ist hier, um zu sehen, was es mit unserem Erfolg auf sich hat. Je schwächer China seiner Ansicht nach ist, desto mehr Grund für die Russen, ihre Expansion nach Osten zu beschleunigen. Unsere Aufgabe ist es daher, ihn zu neutralisieren, von der Fährte abzubringen und in ihm den Glauben zu erwecken, daß China sehr stark ist. Dafür werde ich Ihre Unterstützung brauchen. Könnten wir ihn zum Ball heute abend einladen?«
»Selbstverständlich.«
»Auf jeden Fall müssen wir ihm zu verstehen geben, daß China zur geheimen Einflußsphäre Ihrer Majestät gehört – und daß die Regierung Ihrer Majestät hier keine Einmischung dulden wird.«
Struans Gedanken stießen weit in die Zukunft vor. Wenn sich die Krone in Asien stärker engagierte – um so besser für seinen großen Plan, China als Großmacht in die Familie der Nationen einzuführen. Ein starkes, von England unterwiesenes und unterstütztes China wird der ganzen Welt nützen. Und wir können uns die Einmischung eines despotischen Rußland jetzt, da wir an der Schwelle zum Erfolg stehen, nicht leisten.
Es klopfte an der Tür, und auf der Schwelle erschien Clive Monsey, ein hagerer Mann etwa Mitte der Vierzig, still und unauffällig, mit schütterem Haar und großer, knolliger Nase.
»Exzellenz«, sagte er, »darf ich Ihnen Seine Hoheit Großfürst Alexej Sergejew vorstellen?«
Longstaff und Struan erhoben sich. Longstaff ging auf den Großfürsten zu und sagte in tadellosem Russisch: »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Hoheit. Treten Sie bitte näher und nehmen Sie Platz. Wie war Ihre Reise? Angenehm?«
»Sehr angenehm, Exzellenz«, antwortete Sergejew ohne jedes Zeichen von Erstaunen, drückte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und verneigte sich mit weltmännischer Gewandtheit. »Es ist sehr gütig von Ihnen, mich zum Essen einzuladen, obwohl ich mir die Unhöflichkeit habe zuschulden kommen lassen, Sie von meiner Ankunft nicht zu verständigen. Um so mehr, als mein Besuch inoffiziell und in keiner Weise geplant war.«
»Wir betrachten es als ein großes Glück für uns, Hoheit.«
»Ich hatte bereits gehofft, Sie könnten der Sohn des hochverehrten Freundes Rußlands, Sir Roberts, sein. Dies ist wirklich ein äußerst glückliches Zusammentreffen.«
»Ja, wahrhaftig«, antwortete Longstaff trocken. »Und wie geht es Ihrem Vater, dem Fürsten?« fragte er auf gut Glück.
»Bei bester Gesundheit, Gott sei Dank. Und dem Ihren?«
»Er ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid. Aber Ihrer Mutter, Lady Longstaff?«
»Glücklicherweise geht es ihr gesundheitlich ausgezeichnet.«
Struan betrachtete prüfend den Russen. Sergejew war ein gutaussehender, hochgewachsener Mann, breitschultrig und schmal in den Hüften, tadellos gekleidet, ein Herr, der nur das Teuerste trug. Hoch angesetzte Backenknochen und schräge blaue Augen gaben seinem Gesicht etwas Fremdartiges. Der Zierdegen, den er unter dem aufgeknöpften Gehrock am Gürtel hängen hatte, paßte zu ihm. Um den Hals, unterhalb der makellos weißen Krawatte, hing an einem schmalen scharlachroten Band ein unauffälliger Orden. Kein Mann, mit dem man sich auf einen Streit einlassen sollte, dachte Struan. Ich könnte mir vorstellen, daß er mit dem Säbel ein Teufel und, wenn seine ›Ehre‹ angetastet wird, ein böser Dämon ist. »Darf ich Ihnen Mr. Dirk Struan vorstellen?« sagte Longstaff auf englisch.
Der Großfürst streckte seine Hand aus, lächelte und sagte mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent: »Ach, Mr. Struan, es ist mir eine Freude.«
Struan und er gaben einander die Hände, und Struan empfand Sergejews Händedruck wie eine stählerne Umklammerung. »Ich befinde mich Ihnen gegenüber im Nachteil, Hoheit«, sagte er, ganz bewußt ungezwungen und undiplomatisch. »Ich habe den festen Eindruck, daß Sie sehr viel über mich wissen, während ich von Ihnen nichts weiß.«
Sergejew lachte. »Der Tai-Pan von Noble
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