Tai-Pan
schwach, so gebrechlich, und er dachte an den nächsten Fieberanfall, der in zwei oder drei Tagen zu erwarten war. Und was war mit der Blue Cloud? Sie sollte doch bald in England eintreffen. Würde sie die Gray Witch schlagen? Oder lag sie tausend Meilen zurück und am Grunde des Meeres? Und was war mit all den anderen Klippern? Wie viele werde ich in diesem Jahr verlieren? Dann wird die Blue Cloud die erste sein! Wie geht es Winifred? Und was ist mit Culum, und wo ist Gorth? Ist heute wohl der Tag der Abrechnung? Die Stadt lag noch in tiefem Schlaf. Aber er fühlte die Augen der Chinesen, die ihn beobachteten. Er gelangte auf die Höhe des Hügels und überquerte die schöne Praça de São Francisco.
Jenseits der praça nach Norden zu, an der höchsten Stelle der Landenge, lagen die Festungsmauern des alten Forts von São Paulo de Monte. Dahinter erstreckte sich das Chinesenviertel von Macao: schmale Gäßchen und eng aufeinanderhockende Hütten, die den Nordhang des Hügels wie eine Kruste überzogen.
Eine halbe Meile weiter dehnte sich ebenes Land. Die Landenge wurde immer schmaler und war zuletzt kaum hundertfünfzig Yards breit. Es gab dort Gärten, Spazierwege, das Smaragdgrün der kleinen Rennbahn und das Kricketfeld, das die Engländer im Lauf der Jahrhunderte ausgebaut und immer mehr vervollkommnet hatten. Die Portugiesen hielten nichts vom Rennsport und spielten auch kein Kricket.
Hundert Yards jenseits des Kricketfeldes erhob sich die Mauer, wo Macao endete und China begann.
Die Mauer war zwanzig Fuß hoch, zehn Fuß breit und erstreckte sich von einem Ufer zum anderen. Erst nachdem vor drei Jahrhunderten die Mauer errichtet worden war, hatte sich der Kaiser damit einverstandenerklärt, den Portugiesen die Halbinsel zu verpachten und ihnen zu gestatten, sich auf dem Land niederzulassen.
In der Mitte der Mauer erhob sich ein Wachtturm, und daneben befand sich ein einziges, majestätisch wirkendes Tor. Das Tor nach China stand immer offen, aber kein Europäer durfte es durchschreiten.
Laut widerhallten Struans Schritte, als er eilig die praça überquerte; er öffnete das hohe schmiedeeiserne Tor des bischöflichen Palastes und ging durch die Gärten, die vor drei Jahrhunderten angelegt worden waren. Eines Tages habe ich auch einen solchen Garten, versicherte er sich. Er eilte durch den gepflasterten Vorhof, bis vor das gewaltige Portal, zog dort am Glockenstrang, hörte das Läuten im Innern und zog stürmisch noch ein paarmal.
Schließlich sah er den flackernden Schein einer Laterne an den Fenstern des unteren Stockwerks. Er vernahm schlurfende Schritte und einen Schwall zorniger portugiesischer Laute. Die Tür wurde geöffnet.
»Bom dia. Ich möchte den Bischof sprechen.«
Der nur notdürftig bekleidete, schläfrige Diener starrte ihn verständnislos und ohne ein Zeichen des Erkennens an. Wieder folgte ein Schwall portugiesischer Worte, und schon wollte er die Tür wieder schließen. Struan stellte jedoch einen Fuß in die Tür, stieß sie auf und betrat das Gebäude. Er begab sich in den nächsten Raum – ein schön eingerichtetes Arbeitszimmer mit Bücherregalen an den Wänden – und setzte sich auf einen Stuhl mit geschwungener geschnitzter Rückenlehne. Dann erst richtete er seine Augen wieder auf den Diener, der ihn verblüfft anstarrte.
»Den Bischof«, wiederholte er.
Eine halbe Stunde später betrat Falarian Guineppa, Bischof von Macao, Generaloberer der Römischen Kirche, würdevoll den Raum, in dem sich Struan niedergelassen hatte. Der Bischof war ein hochgewachsener Patrizier, der trotz seiner fünfzig Jahre noch jugendlich wirkte. Die Nase war stolz geschwungen, die Stirn hoch, die Züge ausdrucksvoll. Er trug ein rotlila Käppchen und einen Talar gleicher Farbe. Um den Hals hatte er ein juwelenbesetztes Kruzifix hängen. Die dunklen, schläfrigen Augen waren feindselig. Aber als sein Blick auf Struan fiel, verschwanden Zorn und Schläfrigkeit. Der Bischof blieb auf der Schwelle stehen; sein ganzes Wesen verriet Wachsamkeit.
Struan erhob sich. »Guten Morgen, Eminenz. Entschuldigen Sie, daß ich uneingeladen und zu so früher Stunde komme.«
»Willkommen im Namen des Herrn, Senhor«, antwortete der Bischof zuvorkommend. Er wies auf einen Stuhl. »Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück? Würden Sie mir Gesellschaft leisten?«
»Vielen Dank.«
Der Bischof gab dem Diener auf portugiesisch ein paar kurze Anweisungen, worauf dieser sich verneigte und sofort davoneilte. Dann
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