Taken
mich von Blaine unterscheidet. Seine sind strahlend blau. Lebendig. Meine blicken verdrossen und sind so farblos, dass man mich nach ihrem langweiligen Grau »Gray« genannt hat.
Ich stöhne hörbar, habe aber keine Lust auf Streit. Ich möchte mich darauf konzentrieren, diesen letzten Tag zu genießen – falls das überhaupt möglich ist.
»Was ist los, Gray? Macht dir das Wetter zu schaffen ?« Seit unserer Kindheit zieht sie mich mit diesem Wortspiel auf. Gray Weathersby. Macht dir das Wetter zu schaffen? Nachdem ich diesen Spruch eine Million Mal gehört habe, reicht es mir plötzlich.
»Halt jetzt lieber das Maul, bevor ich es dir stopfe«, fauche ich.
»Ach, komm schon, Gray. Du bist bloß frustriert wegen deines großen Bruders. Schmollst und heulst, weil er in ein paar Stunden für immer weg sein wird.«
Damit trifft sie einen Nerv. Etwas steigt aus meinem tiefsten Inneren in meine Brust auf und prallt gegen meine Rippen. Es ist mir vollkommen egal, dass wir zusammen zur Schule gegangen sind und unsere Tage im selben Klassenzimmer verbracht haben. Ich vergesse, dass sie ein Mädchen ist und ich sie eigentlich nicht schlagen sollte, und reagiere automatisch. Ich lasse Kales Hand los und versetze Chalice einen Faustschlag gegen die Wange. Sie hat das verdient, alles. Wieder schlage ich zu, dieses Mal in ihre Magengrube. Schließlich wälzen wir uns am Boden und prügeln uns. Ein paar Schläge später reißt mich jemand von Chalice herunter und stößt mich beiseite.
»Nimm dich zusammen, Gray.« Ich wälze mich auf den Rücken und sehe, dass Blaine über mir steht. Sein Blick ist enttäuscht. Hinter ihm steht Sasha Quarters, Kales Mutter. Ich schmecke Blut auf der Innenseite meiner Lippe, und das Blut in meinem Kinn pocht. Schön für Chalice, sie hat den Mumm aufgebracht, tatsächlich zurückzuschlagen.
»Du bist verrückt«, sagt Chalice, deren Mund voller Blut ist. »Vollkommen verrückt.«
»Aber sie …«, sage ich und sehe zwischen ihr und meinem Bruder hin und her. »Sie hat sich über dich lustig gemacht, Blaine. Der Raub ist ihr völlig egal.«
Blaine runzelt die Stirn. »Es kümmert mich einen feuchten Dreck, ob sie mich leiden kann. Lieber möchte ich wissen, warum mein kleiner Bruder ein Mädchen verprügelt, das halb so groß ist wie er. Bist du in Ordnung?«, fragt er, indem er sich an Chalice richtet.
Genau deswegen können alle Blaine besser leiden als mich. Aus diesem Grund werden sie ihn alle vermissen, aber bestimmt kaum merken, wenn ich fort bin. Er ist ruhiger und hat ein besseres Herz. Er sieht alles im Gesamtzusammenhang. Ich dagegen bin unbesonnen und reagiere immer so, wie es mir ein Gefühl in der Brust eingibt.
Ich sitze im Dreck und wische mir das Blut von den Zähnen. Kale läuft weg und versteckt sich zwischen Sashas Beinen. Sasha ist älter als Blaine, sieht aber nicht so aus. Ich glaube, sie ist inzwischen neunzehn oder zwanzig, aber das ist schwer zu sagen, weil sie so verdammt hübsch ist. Als Blaine ihr damals zugewiesen wurde, war ich eifersüchtig. Monate später war sie schwanger, und meine Eifersucht verwandelte sich augenblicklich in Erleichterung. Da begann ich vorsichtig mit meinen eigenen Verabredungen zu werden und ging ihnen aus dem Weg, wenn es möglich war. Ich wollte nicht Vater werden. Niemals.
Sasha stützt Chalice, die davonhumpelt. Ich sehe ihnen nach und frage mich, wie Blaine das aushält: dass Kale bei Sasha lebt und Sasha sich weiter zuweisen lässt. Blaine schwebt irgendwo am Rand dieses Bilds, als wäre er nicht wichtig, was so ziemlich dem normalen Umgang entspricht. Jungen sind bis zu einem gewissen Grad von Bedeutung, aber früher oder später sind wir alle fort, daher macht sich niemand die Mühe, besondere Zuneigung zu uns zu entwickeln. Kinder bekommen den Familiennamen des Vaters, aber das ist es auch schon. Sie leben bei ihren Müttern, und die Jungen, nun ja, die Jungen lassen sich einfach treiben.
»Wohin wollen sie?«, frage ich.
Blaine streckt mir die Hand hin und zieht mich hoch. »Zum Krankenhaus. Musst du auch dorthin?«
»Nein, ich werd’s überleben.«
»Gut. Du hast die Schmerzen verdient.« Grinsend boxt er gegen meine Schulter. Es tut stärker weh, als es eigentlich dürfte. Und dann verändert sich seine Miene, sie wird streng und besorgt.
»So etwas kannst du nicht machen, Gray«, schimpft er. Er sieht immer noch enttäuscht aus, was schlimmer ist, als wenn er wütend wäre. »Du schlägst immer zu, bevor du auch
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