Taken
Tisch anlehnt, um sich zu stützen, ist sie noch besser als wir.
Ich erfahre, dass sie, als sie nach ihrem Raub nach Taem gebracht wurde, vollkommen allein dastand. Sie hat keine Geschwister, ihre Mutter ist früh gestorben, und sie vermutet, dass ihr Vater tot ist, nachdem sie ihn in Crevice Valley nicht finden konnte. Außerdem bekomme ich noch ein paar andere Informationen, die eigentlich trivial sind, mich aber aus irgendeinem Grund stärker faszinieren als ihre Lebensgeschichte. Bree besitzt hypermobile Ellbogen. An ihrer Hüfte hat sie einen Leberfleck, der wie eine Mondsichel geformt ist. Ihre Lieblingsfarbe ist ein tiefes, marmoriertes Violett, der Farbton von Wolken, die sich vor dem Abendhimmel abheben. Sie hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, ohne das Krachen der Brandung zu schlafen.
Das Spiel geht weiter, und das Lachen breitet sich in der Trinkstube aus wie eine ansteckende Krankheit. Alle fallen ein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so herzhaft gelacht habe.
Irgendwann, viel, viel später, als wir vollkommen euphorisch und ein wenig zu betrunken sind, versucht Bree, zur Theke zu gehen, um sich noch etwas zu trinken zu holen, und fällt stattdessen von ihrem Schemel. Polly quietscht vor Freude, als wäre das wahnsinnig komisch, und wir anderen lachen amüsiert mit.
»Ich bringe sie nach Hause«, erkläre ich den anderen. Niemand erhebt Einwände, denn sie hat ganz offensichtlich genug. Wir brauchen ungewöhnlich lange bis zu ihrem Quartier. Ich bin selbst ebenfalls betrunken, wenn auch nicht zu sehr, aber Bree schickt mich immer wieder in den falschen Gang, und wir müssen auf unsicheren Beinen zurückgehen. Die ganze Zeit hängt sie an meinem Hals, sodass ich fast ihr ganzes Gewicht mit den Armen abstütze, und murmelt unzusammenhängendes Zeug, das sie ohne den Alkohol nicht sagen würde: wie nett ich doch bin, wie dankbar sie mir ist, weil ich sie gegen Drake verteidigt habe, wie sehr sie sich wünsche, noch einmal von vorn anfangen zu können, weil sie dann nicht so gemein zu mir wäre wie bei meiner Gefangennahme.
»Es ist wirklich schwer, die Wahrheit zu erfahren«, nuschelt sie, als wir bei ihrem Zimmer ankommen. »Und wahrscheinlich hattest du Angst … du weißt schon, wann. Als wir dich wie einen Gefangenen behandelt haben … ein Duplikat.« Sie unterbricht sich eine Sekunde. »Tut mir leid, dass ich nicht netter zu dir war«, setzt sie dann hinzu.
»Nein, tut es nicht«, gebe ich zurück. Vorsichtig lasse ich sie los und taste unsicher herum, um die Tür zu öffnen. Sie steht da und schwankt wie ein hoher Grashalm im Wind.
»Doch, es tut mir leid«, wiederholt sie stur. Das Hemd ist ihr von der einen Schulter gerutscht und hängt schlaff herunter, und ihre Augen schauen verwirrt drein und wirken wie weiche, blaue Seen. Sie tritt ganz nah an mich heran, so weit, dass ihre Wimpern mein Kinn berühren, legt die Hände auf meine Brust und lehnt sich an mich. Ich weiß, was sie will, und wende den Kopf ab.
»Warum willst du mich nicht küssen?«, fragt sie einfach. Ihre Stimme klingt wie die eines Kindes.
»Du willst gar nicht, dass ich dich küsse.«
»Doch.«
»Nein, willst du nicht.« Wie erstarrt stehen wir in der Tür, und Bree lässt die Hände an ihre Seiten sinken.
»Du findest mich nicht hübsch.«
»Daran liegt es nicht«, gestehe ich.
»Woran dann? Hast du schon ein Mädchen? Bist du verheiratet?«
»Was bedeutet verheiratet ?«
»Du weißt schon – zwei Menschen, Ringe. Für immer zusammen.« Sie schwankt wieder leicht. Ich denke an Emma. Zwei Menschen. Zusammen, wie die Vögel.
»Nein, ich bin nicht verheiratet«, sage ich.
»Dann küss mich.« Sie legt die Hände fest auf meine Brust und kommt mir wieder näher, aber ich ziehe mich zurück. Dieses Mal fällt es mir schwerer, ihr zu widerstehen. Ich habe diesen tiefen, inneren Drang, der an mir zerrt und mir befiehlt, meinen Gefühlen zu folgen, so wie ich es immer tue. Aber das hier hat nicht wirklich mit Bree zu tun und auch nicht mit mir. Unsere Körper sind verschwommen, wir sind nebelhafte Spiegelbilder unserer selbst. Was wir empfinden, werden wir vielleicht morgen nicht mehr fühlen. Außerdem liebe ich Emma. Emma, und nicht Bree.
»Ich kann nicht«, sage ich, nehme ihre Hände und drücke sie. Ihre Haut ist warm und glüht geradezu unter meinen Handflächen, und meine Worte sprudeln heraus, bevor ich darüber nachdenken kann. »Aber wenn du morgen früh aufwachst und immer noch willst,
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