Taken
dann küsse ich dich.«
Bree lächelt. Dann beugt sie sich nach vorn und erbricht sich über meine Stiefel.
29. Kapitel
Als ich am nächsten Morgen im Konditionierungsraum zum Training antrete, ist Bree nirgendwo zu sehen. Elijah schickt uns ein weiteres Mal durch die Hölle. Jeder Muskel in meinem Körper ist steif und angespannt wie eine übermäßig gedehnte Bogensehne. Ich habe den Eindruck, entzweizubrechen, aber im Verlauf der Übungen lockert sich mein Körper langsam.
Als das Training endlich zu Ende ist, gratuliert mir Elijah erneut zu meiner guten Leistung und verschwindet dann gemeinsam mit meinem Vater zu einer Lagebesprechung. Ich gehe zur Kantine, um zu Mittag zu essen, biege jedoch auf halbem Weg ab und besuche stattdessen das Krankenhaus.
Blaine liegt mit sauberen Verbänden im selben Bett. Er schläft immer noch. Ich stehe in der Tür und sehe ihn an. Eine Schwester drängt mich, näherzutreten, aber sie weiß nicht, dass ich furchtbare Angst habe. Zeit mit jemandem zu verbringen, den man vielleicht verlieren wird, ist die allerschlimmste Folter. Blaine und ich haben das bei unserer Mutter durchgemacht. Wir saßen an ihrem Bett, hielten ihre Hand und sagten ihr, dass wir sie lieben, und das hat den Tag, an dem sie nicht mehr aufgewacht ist, nur noch schlimmer gemacht.
Endlich bringe ich den Mut auf und zwinge mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich setze mich auf Blaines Bettkante und halte seine Hand. Dann rede ich mit ihm, wie es die Nachtschwester vorgeschlagen hat. Ich erzähle ihm alles; von unserem Weg durch den Wald, dem Wasserfall hinter den Felsen. Von Bree und den Rebellen und unserem Vater. Ich erzähle ihm von der Wahrheit, nach der ich so lange gesucht habe, von dem Laicos-Projekt und dem Raub, von Frank und Harvey. Das Reden erschöpft mich und macht mir klar, wie vollkommen verloren ich mich fühle, obwohl ich jetzt meine Antworten habe. Ohne Blaine bin ich nur die Hälfte meiner selbst.
»Wach auf, Blaine. Bitte. Ich schaffe das nicht allein.«
Ich drücke seine Hand. Er schläft, und seine Brust hebt und senkt sich leicht, aber dann habe ich das Gefühl, dass er den Druck erwidert. Es ist eine so kleine Bewegung, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob es überhaupt passiert ist.
Ein zweites Mal drücke ich seine Hand. Dieses Mal weiß ich, dass ich mir nichts einbilde. Er drückt meine Finger.
»Blaine? Kannst du mich hören?«
Erneut drückt er meine Hand.
Und dann schreie ich nach der Schwester, und als sie hinter mir steht, sage ich ihr, dass sie aufpassen soll. Doch sie braucht Blaines Hand nicht anzusehen, denn als ich sie dieses Mal drücke, schlägt er zittrig die Augenlider auf.
»Blaine!«
Eine ältere Schwester zieht mich weg. »Vorsichtig, mein Sohn. Wir wollen ihn doch nicht erschrecken. Er hat zum ersten Mal seit Tagen die Augen geöffnet.«
Ich stoße sie zurück. »Sie und ihre Leute werden ihn erschrecken. Er ist mein Bruder. Es wird ihm helfen, mich zu sehen.«
Aber dann höre ich, wie schwer er atmet, und plötzlich wuseln mehrere Frauen um Blaines Bett herum. Eilig rollen sie ihn aus dem Zimmer, und ich kann nur einen Gedanken fassen: Er wird es nicht schaffen, und sie haben nicht einmal zugelassen, dass ich das Letzte war, was er sah.
Endlich bringen sie ihn zurück, aber das Warten ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er ist lebendig, unversehrt und wach. Blaine wendet den Kopf zur Seite, und als er mir in die Augen sieht, zwingt er sich zu einem Lächeln.
»Gray.« Mehr sagt Blaine nicht, und seine Stimme klingt trocken und brüchig.
»Hey.«
Er schluckt heftig. »Ich habe dich gehört.«
»Freut mich. War auch Zeit, dass du auf mich gehört hast und zurückgekommen bist.«
»Nicht nur das. Ich habe alles verstanden … jedes einzelne Wort.«
Er sieht weder zornig noch verwirrt aus, so wie ich, nachdem ich die Wahrheit aufgedeckt hatte, aber vielleicht würde es ihn mehr Kraft kosten, als er besitzt, diese Gefühle in seiner Miene auszudrücken. Blaine stützt sich mit den Handflächen aufs Bett und versucht sich aufzusetzen, was ihm jedoch nicht gelingt.
»Ich muss gesund werden.« Mit angespannter Stimme stößt er die Worte hervor. »Ich muss von diesem Bett aufstehen, und wir müssen ihn aufhalten, Gray. Denk doch an Kale.«
Das hatte ich nicht getan, und sofort fühle ich mich schrecklich. Ein langes Schweigen tritt ein, in dem ich nichts höre außer einer Schwester, die vor sich hin summt. »Alles war dunkel, und ich
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