Taken
ich ungefähr in seinem Alter war, und muss die Sache auf sich beruhen lassen.
Die Schenke ist voll mit Kämpfern und Zivilisten. Frauen hängen an den Schultern von Männern und tanzen zu Banjo und Gitarre, die in einer Ecke gespielt werden. Ich sehe mich unter den Gästen nach meinem Vater um, aber er ist nirgendwo zu entdecken. Bree und ich drängen uns durch den dicht bevölkerten Raum zu einer hüfthohen Theke durch.
»Hey, Saul!«, schreit Bree und beugt sich so weit über die Theke, dass ihre Füße sich vom Boden heben. Außerdem rutscht dabei ihr Hemd hoch, und über ihrem Hosenbund wird ein Streifen nackter Haut sichtbar. »Wir kriegen hier zwei Schnaps«, sagt sie. Der Barmann, ein älterer, stämmiger Mann, schiebt uns die Gläser zu, und Bree bedankt sich laut.
»Darauf, dass wir einen ganzen Tag überstanden haben, ohne einander umbringen zu wollen«, sage ich und hebe mein Glas.
»Da sprichst du nur für dich selbst.« Sie grinst selbstgefällig, stößt aber mit mir an, und wir kippen den Schnaps hinunter.
»Noch eine Runde?«, fragt sie.
»Ist das Zeug etwa nicht rationiert?«
»Das nicht, aber es ist auch okay, wenn der Alkohol ausgeht. Vom Essen kann man das nicht sagen.«
Wir trinken noch ein paar Runden und gehen dann ans andere Ende der Theke, wo wir einer Gruppe junger Männer zusehen, die ein merkwürdiges Spiel mit Miniatur-Speeren austragen. Sie werfen damit abwechselnd auf eine kleine Zielscheibe, die an der Wand hängt.
»Beim nächsten Mal spielen wir mit«, kündigt Bree ihnen an. Der bessere der Männer in der Gruppe, der mehrmals ins Schwarze getroffen hat, dreht sich zu uns um.
»Oh, da wirst du aber untergehen, Bree«, meint er. »Gegen Sammy und mich kommst du auf keinen Fall an.« Er hat schlammbraune Haare, die sich hinter seinen Ohren locken, und einen kantigen Schädel, so eckig und markant, dass ich ihn nicht verwechseln kann. Das ist Xavier Piltess – größer, breiter und viel muskulöser als der Fünfzehnjährige, der mich in den Wäldern von Claysoot das Jagen gelehrt hat, aber er ist es.
»Xavier?«, frage ich vorsichtig.
Er hält einen Moment inne und sieht mich forschend an. Ich sehe, wie sein Blick an meinen Augen hängen bleibt und ihre Farbe registriert: grau, nicht blau. Dann breitet sich Erkennen auf seinem Gesicht aus.
»Gray!«, ruft er aus. Wir fassen uns an den Armen, und er klopft mir auf den Rücken, wie ein großer Bruder es tun würde. »Wie zur Hölle geht’s dir? Wo steckt dein Bruder?«
Während er das Spiel beendet und nicht ein einziges Mal danebenwirft, bringen wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Er wurde vor über einem Jahr von den Rebellen als Geisel genommen, als eine Ordensmission, mit der er unterwegs war, scheiterte. Nachdem er hörte, wie Franks Lügen entlarvt wurden, wechselte er die Seiten. Ich erzähle ihm meine Geschichte – eine Kurzversion voller Notlügen –, aber für ihn kommt es nicht wirklich darauf an: Blaine und ich sind geraubt worden. Jetzt sind wir beide hier; ich in der Ausbildung und Blaine im Krankenhaus. Als ich von Blaine spreche, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich sollte ihn wieder besuchen.
Xavier stellt mich Sammy vor, der einundzwanzig ist, aus Taem stammt und zu den Rebellen ging, als sein Vater hingerichtet wurde, weil er Rationierungskarten gefälscht hatte. Er hatte sie eingesetzt, um an zusätzliches Wasser zu kommen, das er oft in arme Dörfer außerhalb der Kuppel brachte. Aber anscheinend fand Frank diese Art von Mildtätigkeit nicht akzeptabel.
Bree und ich treten bei dem Spiel, das sie Darts nennen, gegen die beiden an und verlieren haushoch. Irgendwie bin ich nicht in der Lage, die Pfeile mit dem richtigen Kraftaufwand und im richtigen Winkel zu werfen. Sie kommen mir vor wie zahnstochergroße Speere und meine Hände gehen ungeschickt damit um. Xavier versucht meine Haltung zu korrigieren und gibt mir Tipps, aber ich verbessere mich fast nicht. Ich gebe dem Alkohol die Schuld.
Schließlich beenden wir das Spiel und besetzen einen hohen Tisch. Hal und Polly stoßen zu uns vieren, und dann sitzen wir alle auf wackligen Hockern, trinken viel zu schnell und spielen Verdammte Lügen. Wie sich herausstellt, ist es dasselbe Spiel wie unser Kleine Lüge in Claysoot, nur mit einem gröberen Namen. Bree ist die beste Lügnerin von allen. Immer wieder legt sie uns herein, und ihre Lüge ist nie vom Rest zu unterscheiden. Selbst als sie zu lallen beginnt und sich mehr bei mir als am
Weitere Kostenlose Bücher