Tal der Tausend Nebel
Zunge gehorchte ihr zwar in der Bewegung und selbst dem Formen der Laute, aber aus ihrem Mund drang kein einziger Ton. Ihr Atem trug nur noch Luft.
Dabei hatte Elisa vor einiger Zeit um ein bestimmtes Buch in der Bibliothek ihres Onkels gebeten, das die Funktionen des Körpers genau erklärte. Dort fand sie Abbildungen der Stimmbänder und der Kehle. Elisa studierte sie genau, zeichnete sie nach und tastete an ihrem Hals nach ihrem Kehlkopf. Sie spürte ihren Atem strömen und konnte auch summen. Physisch schien alles normal zu sein. Ihre Atemluft transportierte aus der Kehle die Töne in den Mund. Aber mit geöffnetem Mund brachte ihre maximale Anstrengung höchstens ein trockenes Keuchen hervor. Es irritierte sie, wie wenig die Anstrengungen mit ihrer Stimme fruchteten, deshalb beschloss sie eines Tages aufzugeben. Sie lernte so viele andere Dinge in dieser Zeit von der Natur.
Sie wurde unter Keliis Anleitung ein Meister im Feuermachen, Fischen und im Auffinden von wilden Tarowurzeln tief in der Erde. Aber ihr eigener Körper blieb ihr nach dem Gewaltakt ein geheimnisvolles Rätsel. Einiges war einfach anders, als sie es vor der Grotte gewöhnt war. Nicht nur fehlte ihre Stimme, sondern auch die Mitte ihres Köpers blieb ihr fremd. Sie hatte nach wie vor täglich mit der Verarbeitung von Wasser und Nahrung zu tun. Sie wusch sich sorgfältig an den geheimen Nischen der Frau, so wie ihre Mutter es ihr als Kind beigebracht hatte. Aber zwischen ihren Beinen, wo sich bei Berührung früher wohlig und kitzelnd ihre Sinne gemeldet hatten, blieb alles taub. Sie fühlte dort nichts mehr. Auch ihre Mondzeit kam nicht mehr, weder im ersten Monat noch im zweiten.
Als Kelii heute nach dreitägiger Abwesenheit zurückkehrte, galt ihre erste schriftliche Frage dem Befinden ihrer Mutter. Sie hatte in der Nacht von ihr geträumt, nachdem sie in der Höhle von einem heftigen Regenguss geweckt wurde, der prasselnd auf den Felsen seine Trommelmusik spielte.
Kelii lächelte traurig über ihr freudig erregtes Gesicht. Er wusste, wie sehr Elisa an ihrer Mutter hing, war aber selber nicht von Clementias Liebe zu ihrer einzigen Tochter überzeugt. In Hawaii liebten Mütter ihre Kinder anders. Sie waren Geschenke der Götter. Doch lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als ihr zu berichten, wie wenig Trauer er bei ihrer Mutter wahrgenommen hatte. Deshalb wählte er seine Worte äußerst vorsichtig.
»Deiner Mutter Clementia geht es, den Umständen entsprechend, ziemlich gut. Du weißt, wie sehr deine Tante darauf gedrängt hatte, ein Schiff zu finden, das sie nach angemessener Trauerzeit zurück nach Europa bringt?«
Elisa nickte nervös. Es war schwierig für sie zu begreifen, warum ihr Onkel die Entscheidung gefällt hatte, ein Stück von Elisas Land zu verkaufen, um ihre Mutter zurück in die alte Welt zu schicken. Kelii fuhr bereits fort.
»Deine Mutter hatte letzte Woche erneut zwei Mal Besuch vom alten Fried. Es sieht so aus, als hätte er es sich vorgenommen, seine schützende Hand über sie zu halten. Jedenfalls hat er ihr diesmal angeboten, zu ihm zu ziehen. Ich habe es aus erster Hand erfahren. Von Amala, die sich täglich um sie kümmert. Vielleicht ist so auch dein Land in Sicherheit … vielleicht.«
Elisa nickte zufrieden. Gott hatte ihre Gebete für ihre Mutter erhört. Sie legte Kelii ihre nächste Frage hin. Johannes und Leilani. Wie geht es ihnen?
Diesmal nickte er nur vorsichtig. Er lächelte nicht. Die Beziehung der beiden blieb in seiner Familie ein äußerst heikles Thema. Der von Leilani gewünschten Ehe mit Johannes hatten weder ihre Mutter noch ihr Vater letztendlich zugestimmt. Der Besuch, den der Vater mit Kelii und Leilani im Königspalast auf Oahu machte, da seine Mutter dort als oberste weibliche Beraterin der Königin tätig war, hatte zu mehr Schwierigkeiten geführt. Vor allem aber hatte er nicht das von Leilani gewünschte Ergebnis gebracht. Die Königin selber war strikt gegen die Ehe. Daher hatten auch die Kahuna nicht zugestimmt, was den Eltern die Hände band. Leilani sollte vorerst in ihrem Dorf bleiben, bis ihr Kind auf der Welt war. Dann erst wollte man weitersehen. Kelii lächelte entschuldigend, als er Elisas enttäuschtes Gesicht sah. Er kannte ihre Gedanken und stimmte ihr im Grunde seines Herzens zu.
»Du hast recht. Sie lieben sich, und das sollte von unserer Seite unterstützt werden. Aber immerhin darf Johannes meine Schwester jetzt wieder offiziell und regelmäßig besuchen.
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