Tal der Tausend Nebel
doch ihre beiden Seelen in die Dunkelheit gestürzt.
In dem Moment verstand sie etwas Essentielles über sich selbst, vielleicht auch über die Natur des Menschen selber. Rache und Liebe konnten nicht gleichzeitig in einem Herzen blühen. Ihr Wunsch nach Rache an Janson und ihre eigene Liebe zu Kelii bekämpften sich seit der Nacht in der Grotte. Sie musste das ändern, wenn sie Kelii wirklich glücklich machen wollte, denn er liebte sie. Würde sie für immer die Gedanken an ihre Rache an Janson in ihrem Inneren regieren lassen, so würde ihre Liebe zu Kelii Stück für Stück hinter der rot glühenden Wut ihres Hasses verschwinden.
Elisa sah ihre Rachegefühle in diesem Moment als einen Kreis aus zerstörerischem Feuer, den sie selber wie einen Schutzwall um sich gezogen hatte. Ihr Wunsch nach Rache war es, der auch Kelii auf Abstand hielt. Vielleicht war sie auch deshalb stumm. Ihr Hass auf den Mann, dessen brutale Gewalt sie tödlich verletzt hatte, hielt ihre zärtlichen Worte in ihrer Kehle gefangen. So viel Kraft hatte der Hass.
»Ein Wort von dir und ich finde Janson noch heute und schneide ihm die Kehle durch. Nein, das wäre zu gnadenreich. Ich erwürge ihn für dich mit meinen eigenen Händen. Du glaubst nicht, wie oft ich es mir schon in allen Details ausgemalt habe. Wahrscheinlich wünsche ich mir seinen Tod noch mehr als du.«
Elisa blinzelte in die Sonne über sich, die durch das Blätterdach feine Strahlen auf die rote Erde warf. Wie in Zeitlupe sah sie einen Käfer auf dem Boden mühsam über einen abgebrochenen Zweig krabbeln. Sie sah eine Pfütze auf einem Felsen, die sich nach dem nächtlichen Regenguss gebildet hatte. Eine Eidechse näherte sich langsam, um zu prüfen, ob es sicher wäre, von dem Nass zu trinken. Sie sah das Spiel der Muskeln an Keliis Kieferknochen. Wie wütend er ihretwegen war, wie bereit, für sie zu töten und damit alles zu zerstören, was sie gemeinsam erschaffen hatten. War das die Kraft von Elisas Liebe?
Sechsundzwanzig Tage und Nächte waren seit diesem Moment vergangen, in dem Elisa in der Tiefe der Waimea Schlucht eine Erkenntnis geschenkt bekam, die sie den Rest ihres Lebens begleiten würde. Sie hatte noch am gleichen Tag beschlossen, sich für die Liebe zu Kelii zu entscheiden. Ihren Hass wollte sie für immer hinter sich lassen. Alles andere war wie von alleine geschehen.
Zwar konnte sie weder sofort sprechen, noch fand sie auf der Stelle wieder Gefallen an Keliis Männlichkeit und wollte ihn berühren, aber sie sah ihren Weg wieder vor sich. Zunächst führte er über das Meer. Auf die Nachbarinsel Oahu wollten sie reisen, Verwandte von Kelii besuchen, danach seine Mentorin, die mächtige alte Kahuna Hoku. In den Königspalast waren sie durch Keliis Mutter ohnehin jederzeit eingeladen. Elisa hatte sich vorgenommen, Lili’uokalani, die Königin von Hawaii, kennenzulernen, aber vor allem auch Keliis Mutter. Vielleicht würde sie dann sicher wissen, wie es in ihrem Leben weitergehen würde.
Immer noch trug Elisa traditionelle hawaiische Kleidung. Sie hatte die wenigen Dinge, die sie jetzt noch besaß, unter ihnen zwei Bücher, ihr Zeichen- und Malzeug, in das Tuch eingeschlagen, das Leilani ihr als Abschiedsgeschenk zukommen ließ. Das Tuch war von einem leuchtenden Rot. Keliis Schwester hatte ihr liebevolle Worte dazugeschrieben und ihr viel Kraft gewünscht. Sie sei immer willkommen, hatte sie Elisa geschrieben, als Schwester und als Freundin.
Leilanis Baby hatte Kelii als Erster begrüßen können. Es war tatsächlich ein gesunder, kräftiger und vor allem großer Junge, der seiner Mutter die Geburt nicht einfach machte. Johannes war, wie von Leilani gewünscht, nicht dabei, dafür aber ihr Bruder. Über die Zeilen, die Johannes an Elisa schrieb, um die Qual zu beschreiben, die er durchlitt, während Leilani mit Keliis Hilfe ihren ersten Sohn gebar, musste Elisa ein wenig lächeln.
Wenige Tage später, als die Winde günstig waren, machten sie sich mit Keliis Boot auf die Reise. Mehrere Tage und Nächte würden sie auf dem Meer verbringen, bis sie an Oahus Nordküste angekommen waren. Oahu war ungefähr achtzig Seemeilen entfernt, wie er ihr erklärte, während er ihr die Reiseroute skizzierte.
Bis auf das kleine Ni’hau war Oahu die nächstgelegene Insel zu Kauai. Nach den Sternen würde er sein neues Va’a vor allem nachts navigieren. Tagsüber war es die Sonne, die ihnen Geleit geben würde, aber aus der Form der Wellen konnte er ablesen, ob sie
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