Tal der Tausend Nebel
Ihre Probleme waren lösbar. Eigenartigerweise war beim Zählen nie die gleiche Zahl an Tunneln herausgekommen. Das war ein willkommener Anlass zu philosophischen Gedanken. Hatten sich die Tunnel verändert? Hatten sich Maja und ihr Vater immer wieder verzählt? Und warum hatte ihre Mutter nie mitgespielt, sondern die ganze Zeit über im Auto ehrgeizig an ihren Vorlesungsskripten gearbeitet?
Maja war lange das Nesthäkchen gewesen, nachdem ihre Geschwister schon längst flügge waren. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie ihrer Mutter lästig war, eine Art Bremsklotz. Daran musste sie plötzlich denken, als sie Stefan so begeistert von seinen Aufstiegschancen an der Klinik schwärmen hörte. Stefan war das Ziehkind seiner Mutter an der Herzklinik. Sie war die Chefärztin, er der aufsteigende Stern am Ärztehimmel. Eine umwerfende Kombination, fanden alle, nur Maja machte es bisweilen Angst.
An einer Raststätte am Bodensee, wieder auf deutschem Terrain, hielt Maja sich relativ lange in der Toilette auf. Sie musste allein sein, um noch einmal an sich heranzulassen, was Anela ihr noch in der Küche gesagt hatte.
»Er liebt dich, Maja. Mein Cousin hat noch nie eine Frau so sehr geliebt wie dich.«
Sie hatte dabei Majas Hand ergriffen und an ihr Herz gedrückt, so als müsste sie ihren Worten mehr Intensität und Glaubwürdigkeit verleihen.
»Ich weiß, es ist verrückt, aber ich habe Keanu noch nie so gesehen … Und ich kenne ihn, seit er ein kleiner Junge ist, glaube mir!«
Wieder der Druck ihrer Hand und diese wahnsinnig warmen Augen, die lächeln konnten wie eine Sonne. Anela machte keine halben Sachen. Sie strahlte Maja an, als könnte sie so die ganze Welt erwärmen.
»Glaube mir, Maja, du bist die eine, die einzig Richtige für meinen Lieblingscousin. Ich kenne natürlich auch Leilani, seine Verlobte, aber ich glaube, das könnte jetzt vorbei sein …«
Anela hatte bei ihren Worten immer noch warm gelächelt, aber gleichzeitig auch ein wenig traurig ausgesehen, als sie Majas Hand schließlich wieder losließ.
»Du glaubst mir natürlich nicht. Wie solltest du auch. Ich weiß nicht, was du empfindest. Stefan ist auch ein großartiger junger Mann und bestimmt ein vielversprechender Mediziner. Aber Keanu und du, ihr seid … ihr seid miteinander verbunden. Ihr seid, wie man bei uns sagt, dakine, oder auf Englisch one kind, aus einem Holz geschnitzt. Und damit meine ich nicht, dass ihr vielleicht um acht Ecken blutsverwandt seid, sondern eure Seelen sind es … ich spüre so etwas.«
Bevor sie mit den Eisschälchen zu den anderen zurückgingen, hatte Anela sie umarmt. Maja glaubte, Tränen in ihren Augen zu sehen, als sie ihr einen letzten Rat mit auf den Weg gab.
»Was immer du weiter in deinem Leben mit Keanu vorhast, ich kann dir sagen, er ist jede Sekunde, jeden deiner Gedanken und jede deiner Anstrengungen wert. Hätte er mich auserwählt, ich hätte alles stehen und liegen lassen … ich wäre ihm wahrscheinlich sogar bis ans Ende seiner verrückten Rebellenwelt gefolgt …«
Es lag eine Traurigkeit in dem Blick der schönen Frau, die Maja mitten ins Herz traf. Dabei schien Anela so glücklich mit ihrem netten Mann und den beiden süßen Kindern hier in Nizza. Aber welchem Menschen kann man schon ins Herz sehen? Sicher wirkten Maja und Stefan von außen auch wie das Traumpaar schlechthin. Und vielleicht waren sie das auch, und Maja konnte es im Moment einfach nur nicht sehen.
In der engen Toilettenkabine der Raststätte versuchte Maja, ihre Gefühle zu ordnen. Da war einmal ihre zunehmende innere Distanz zu Stefan, die es zu begreifen galt. Nicht einmal seine Küsse bedeuteten ihr noch etwas. Er ließ sie schlicht kalt, und sie schämte sich dafür, so wie sie sich auch wegen ihrer Lügen genierte. Aber vor allem ging Maja ihr Liebeserlebnis mit Keanu nicht aus dem Kopf. Auch jetzt griff sie an den Haifischzahn, nur kurz, um sich ihm verbunden zu fühlen. Es war wie ein Aufatmen, wie ein Anker der Sicherheit. Dann versteckte sie ihn wieder im hintersten Winkel ihrer Handtasche. Sie würde ihm den Zahn zurückgeben müssen, das wusste sie. Aber noch konnte sie nicht einmal daran denken.
Sie machte sich natürlich auch Gedanken über das Auserwählen, von dem Anela gesprochen hatte. Hatte Keanu sie auserwählt? War es Liebe, die er für Maja empfand? Was für eine Art von Liebe? Ein kurzes spannungsgeladenes Feuer, wie es vorkam, wenn man sich im Urlaub in eine Fremde verliebte? Und warum sollte
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