Tal der Tausend Nebel
seit der Name von Elisas Vater vom Tor entfernt worden war.
Janson hatte den Hain mit Elisas Obstbäumen von ihrer Mutter erworben. Es gehörte zu Johannes’ Aufgaben, in Jansons Hain die Apfelernte, Neuanpflanzungen sowie die regelmäßige Pflege der Obstbäume zu betreuen. Jedes Mal, wenn Johannes dort war, traf er Kelii. Er wollte wissen, wie es Elisa ging und ob sie etwas brauchte. Er sorgte dafür, dass sie alles bekam. Manchmal waren es ein Buch oder Zeichenmaterialien oder neue Schreibutensilien.
Immer wenn Kelii mit seinen Neuigkeiten von der Plantage zurück in die Berge kam, hatte Elisa schon ihren Schreibblock mit ungeduldigen Fragen gefüllt. Das war jetzt die einzige Möglichkeit für Elisa, mit Kelii zu kommunizieren, denn sie war stumm.
Schwer traumatisiert von der Gewalt, die Janson ihr zugefügt hatte, betrauerte sie anfangs noch nicht einmal den Verlust ihrer Stimme. Sie war einfach nur froh, überlebt zu haben. Janson nie mehr wiedersehen zu müssen, war ein Geschenk. Wie ein kleines Kind klammerte sie sich an ihren Freund Kelii. Er war ihr rettender Anker, ihre Familie und ihr Zuhause. Aber Kelii war jetzt nur noch ein Freund oder eine Art Bruder für sie. Obwohl sie ihn über alles liebte, und das tat sie, ängstigte sie seine männliche Nähe.
Ihr einmaliges Erlebnis am Wasserfall, bei dem sie sich seinen Zärtlichkeiten schamlos und voller Lust hingegeben hatte, war in eine unendlich ferne Vergangenheit gerückt. Wenn ihr Blick jetzt zufällig auf das Tuch fiel, das er um seine Hüften trug, musste Elisa immer an die Waffe der Männlichkeit denken, die darunter verborgen war. Etwas in ihrem Inneren war zerrissen, nicht nur körperlich, sondern vor allem in ihrer Seele. Janson hatte etwas in ihr zerstört, und sie wusste nicht, wie sie den Schaden wieder heilen konnte. Im Kopf war Elisa sich natürlich darüber im Klaren, wie wenig Kelii mit Janson gemeinsam hatte. Aber ihr Körper wollte es nicht verstehen. Ihr wurde übel und schwindlig, wenn Kelii auch nur zufällig ihre Hand mit seiner berührte. Immer zuckte sie dann zurück, so als wäre er eine giftige Pflanze oder ein glühendes Stück Kohle. Sie konnte ihre Reaktion mit dem Kopf nicht steuern. Es passierte einfach.
Die drei Mal, die sie in den letzten Wochen innerhalb des Tales umziehen mussten, um möglichen Verfolgern auszuweichen, konnte sie sich selbst bei halsbrecherischen Kletterpartien nicht von ihm helfen lassen. Ihre Knie begannen schon zu zittern, wenn sein Körper bis auf Armeslänge in ihre Nähe kam.
Kelii schien es zu verstehen, zumindest zu akzeptieren, denn sie wurde erfinderisch darin, auf immer neue Weise ihre Zuneigung zu ihm auszudrücken. Sie liebte ihn wirklich. Sie waren wie Brüderchen und Schwesterchen. Stundenlang imitierten sie im Wechsel Vogelstimmen. Sie pfiffen sich gegenseitig Tonfolgen vor, bis ihre gespitzten Lippen vor Erschöpfung taub wurden. Elisa nahm Kohlestücke von ihrem abendlichen Feuer und zeichnete für ihn riesige Gemälde an die Felsen, während er fort war. Kam er zurück, erwarteten ihn ihre schönen Bilder auf den Felsen wie Boten aus einer anderen Welt.
Eine Zeit lang zeichnete sie Erinnerungen aus ihrer Hamburger Kindheit. Den alten Michel, den Hafen, die riesigen alten Gebäude der Speicherstadt. Dann waren es Szenen aus der Bibel. Moses und das geteilte Meer. Die Geschichte von David und Goliath und viele andere. Ihr Lieblingsmotiv blieben Adam und Eva im Paradies, denn so kam ihr das neue Leben mit Kelii vor. Nur fehlte der Apfel.
Manchmal schrieb sie ihm auch kleine Gedichte oder lange Briefe, die voller Zuneigung waren. Und immer, wenn Kelii von seinen Ausflügen in sein Dorf oder auf die Plantage zurückkehrte, zeigte sie durch ihr Lächeln tiefe Dankbarkeit. Sie war so froh, dass er nie darüber sprach, wie schwer es für ihn war, nicht mehr ihre Stimme zu hören, seit Elisa in der blauen Grotte ein Teil ihrer Seele gestohlen worden war. Sie würde für immer stumm bleiben, zumindest glaubte Elisa das tief in ihrem Herzen. Sie hatte längst vergessen, wie es sich anfühlte, wenn man sprach, sagte sie sich in ihrem Inneren. Auch ein Teil ihrer Erinnerung war in der Grotte gestorben. Die an ihren Vater zum Beispiel, denn sie konnte sein Gesicht nicht zeichnen, obwohl sie es versuchte. Manchmal versuchte sie, ihre Stimme zu üben. Sie erinnerte sich an die Lieder, die sie so gerne als Kind mit ihrer Mutter gesungen hatte. Jetzt sang sie diese Lieder in ihrem Kopf. Ihre
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