Tal der Tausend Nebel
auf Kurs waren. Die uralte polynesische Navigationskunst wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Kelii war stolz auf sein neues Va’a, sein Auslegerkanu für zwei, bei dem ihm sein Vater und Freunde aus dem Dorf geholfen hatten. Er freute sich auf ihre Reise übers Wasser und war sicher, dass sie auch Elisa guttun würde. Sie nickte, aber mehr, um Kelii eine Freude zu machen. Vorfreude verspürte sie keine. Sie hatte nicht vergessen, dass es ein Va’a gewesen war, von dem sie einst bei ihrer Ankunft ins Meer gestürzt war. Kelii konnte ihr noch so viel von der Stabilität seines neuesten Bootes erzählen, in ihr blieb ein Rest von Zweifel. Aber auf die Nachbarinsel freute sie sich sehr.
Zuerst würden sie einige Tage bei einer Cousine von Kelii verbringen, die er lange nicht gesehen hatte, aber sehr schätzte. Kelii wollte ihren Mann und ihre Kinder kennenlernen und ihnen ein wenig beim Bau ihres neuen Hauses helfen. Auf der gleichen Seite von Oahu lebte die sehr alte Hoku, die Elisa inzwischen auch gern kennenlernen wollte. Die betagte Heilerin, die auch Königin Lili’uokalani in den wichtigsten Fragen beriet, hatte mehrfach von Elisa geträumt. Das hatte sie durch die beiden wichtigsten lokalen Kahuna auf Kauai ausrichten lassen.
Der Traum eines Kahuna war eine große Ehre, wie Kelii ihr erklärte, aber er war auch unmittelbare Aufforderung für eine Konsultation. Selbst einen Mondtermin hatte Hoku vorgegeben, wie es sich gehörte, sodass ihr Plan für den ersten Reisemonat so gut wie feststand.
Nach Sonnenuntergang sollte ihre Fahrt zur Nachbarinsel bei günstigem Wind von der kleinen Bucht, unterhalb des Versammlungsfelsens, aus losgehen. Nicht nur Keliis Vater, sondern fast das halbe Dorf war gekommen, um ihnen eine gute Reise zu wünschen. Amala hatte zum Abschied eine prächtige rote Blumenkette für Elisa gewunden. Sie hing ihr den traditionellen Lei mit Tränen in den Augen und vielen segnenden Worten um den Hals.
Elisa hätte den Duft unter Tausenden erkannt. Die roten Jasminblüten wuchsen auf der Vogel-Plantage, vor ihrem ehemaligen Schlafzimmer. Die Frauen umarmten sich. Dann ließ sich Elisa ein letztes Mal von Amala die Haare kämmen und einen Zopf flechten, damit ihr Haar auf der Seereise nicht verfilzen würde.
Die Männer legten letzte Hand an das Boot. Sobald Vorräte, Wasser und Habseligkeiten verstaut waren, nahm Elisa ihren Platz in Keliis neuem Va’a ein. Dann machten sie sich auf die Reise.
Kelii ließ es sich nicht nehmen, an dem Riff der Haie haltzumachen und die traditionellen Rituale durchzuführen, die ihnen eine gute und sichere Reise bescheren sollten. Elisa mied den Blick in die schwarze Tiefe. Es war nicht, dass sie Angst hatte, denn ihr Herz blieb ganz ruhig. Es war vielmehr eine dunkle Sehnsucht, die sie kurz spürte, als sie über dem Riff waren. Ein Teil von ihr wollte dort unten sein, tief im Riff der Haie, weil sie glaubte, dort endlich Frieden zu finden. Sie hatte begonnen, sich auf eine Art und Weise dem Klan der Haie zugehörig zu fühlen, die sie zutiefst beunruhigte. Deshalb wagte sie keinen einzigen Blick in die Tiefe.
Ihre erste Nacht auf dem Meer begann schwierig. Es war kalt, zu kalt, um allein zu schlafen, denn sie hatten nur eine gemeinsame warme Decke. Aber wie sollten sie sich legen, um Elisas panisches Herzklopfen nicht zu verstärken, wenn Keliis Körper ihren berührte?
Das Meer war ruhig. Die Sterne über ihnen bildeten einen Zauberteppich für Elisas hungrige Augen. Auf dem Wasser sah sie viel mehr Himmelskörper als in den Bergen, da auf Kauai fast immer eine neblige Wolke über den Gipfeln hing. Die Wellen bildeten ein glucksendes Bett aus dunkelblauem Glas. Der Mond, der in dieser Nacht wie eine Sichel am Himmel stand, wachte über Elisas Herz, so kam es ihr zumindest vor, als sie zunächst vorsichtig Keliis Rücken berührte. Er hatte länger gerudert, musste also müde sein, sagte sie sich. Er hatte keinen Wunsch nach Nähe.
Sie sah ihn gerne im Boot vor sich am Paddel sitzen, in immer gleicher Haltung, seine Muskeln im Wechselspiel mit den Wellen, die sie so schnell vorwärtsgleiten ließen, dass sie bisweilen ans Fliegen denken musste. So weit waren sie in ihrer ersten Nacht gekommen, dass Kauai und auch Ni’hau am nächtlichen Horizont nicht mehr zu sehen waren. Um sie herum war nur das unendlich weite Meer.
Elisa hatte sich vorgenommen, ihre Angst vor Keliis Körper auf dieser Reise zu überwinden. Daher zwang sie sich in der
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