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Tal der Tausend Nebel

Tal der Tausend Nebel

Titel: Tal der Tausend Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noemi Jordan
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ihrer Ankunft auf der Insel. Ihnen diesen Mann zur Begrüßung zu schicken, war die maximale Beleidigung. Das würde Elisa ihrem Onkel bei Gelegenheit auch sagen, zumal er und seine Frau keineswegs durch die Geburt ihres neuen Babys verhindert waren. Das hatte Elisa bereits von dem Verwalter erfahren. Das Kind war seit vier Wochen auf der Welt, und ihre Tante hatte sich prächtig erholt. Onkel Paul war nicht persönlich zu ihrer Begrüßung gekommen, weil seine Frau an diesem Abend eine wichtige gesellschaftliche Einladung gab. Auch ohne sie je getroffen zu haben, war Elisa ihre Tante jetzt schon unsympathisch.
    Mit kräftigen Bewegungen brachten die Männer die drei Kanus dem Ufer näher. Da sah Elisa plötzlich, dass eine ihrer Truhen nicht gut in dem großen Kanu befestigt war. Sie schwankte gefährlich hinter dem dicken Holländer auf einem großen Schrankkoffer. Farbige Aufkleber auf der Holztruhe zeugten von der weiten Reise, die Mutter und Tochter hinter sich gebracht hatten. Selbst im schnell schwindenden Abendlicht konnte Elisa sie deutlich lesen. London, New York, San Francisco. Auch ein Aufkleber aus Australien war dabei. Dort waren sie eine Zeit bei Geschäftsfreunden von Elisas Vater untergekommen, damit ihre Mutter ein böses Fieber auskurieren konnte. Elisa sah, wie das Seil, das Truhe und Schrankkoffer zusammenhielt, sich weiter löste. Die Truhe mit Elisas Kleidern und persönlichen Sachen würde in Kürze ins Meer fallen. Spontan stand Elisa in ihrem Kanu auf.
    »Herr van Ween, Achtung! Meine Truhe …«
    Doch es war bereits zu spät. Die kleine Truhe rutschte. Das Kanu des Verwalters legte sich gefährlich auf eine Seite. Dann versank die kleine Truhe in den Wellen. Elisas abruptes Aufstehen hatte auch ihr Kanu ins Wanken gebracht. Aufgeregt redete der Alte hinter ihr auf sie ein, aber es war zu spät. Einen Moment lang ruderte Elisa noch mit ihren Armen hilflos in der Luft, dann fiel sie über Bord.
    Tiefer und tiefer versank Elisa in dem salzigen schwarzen Wasser. Ihr Seidenkleid hing wie Blei an ihrem Körper. Schwimmen konnte sie nicht. Ihr Vater hatte es ihr nicht mehr beibringen können. Das waren Elisas letzte Gedanken, während sie unter Wasser verzweifelt mit den Armen um sich schlug. Schnell war sie orientierungslos in den dunklen Fluten. Kurz zwang sie sich ihre Augen zu öffnen. Sie wollte zumindest sehen, wo die Oberfläche war. Das Salz biss ihr in den Augen, aber sie sah einen letzten Schimmer Abendrot. In der Richtung müsste die Oberfläche sein. Doch so sehr sie sich auch abmühte, ihr Sinken war unvermeidlich. Enge drückte ihre Brust zusammen. Sie würde sterben. Auf dem Grund des Meeres würde sie ihr Leben aushauchen. Das war es aber nicht, was sie wollte. Sie hatte doch gerade erst ihr Paradies gefunden. Ihr ganzes Leben lag noch vor ihr, dachte sie wütend, während sie versuchte sich das Kleid vom Leib zu reißen, um nicht noch weiter abzusinken. Ihren Vater brauchte sie jetzt. Er müsste ihr doch helfen können, in seiner anderen Welt. Sie versuchte unter Wasser nach ihm zu rufen, aber immer mehr Wasser drang salzig und bitter in ihren Mund. Mit letzter Kraft rief sie nach dem Mann, der sie vielleicht wirklich retten könnte. Kelii, wollte sie rufen, aber es blieb bei dem Gedanken an seine Augen, die ihre getroffen hatten wie ein Pfeil aus Licht.
    In den letzten Sekunden ihres Lebens verfluchte Elisa ihr geliebtes Meer, während sie immer tiefer sank. Ihre Arme waren inzwischen viel zu müde, um gegen die bleierne Schwere anzukämpfen. Nur ihr Geist war noch voller Widerstand. Ausgerechnet das flüssige kalte Blau, das sie seit Anbeginn ihrer Reise immer wieder gemalt hatte, sollte jetzt ihr letztes Bett werden. Dann begann auch Elisas Wut immer mehr zu weichen. Sie hatte das Meer lieb gewonnen, dachte sie mit schläfriger Schwere. Warum sollte es nicht ihre letzte Ruhestätte sein?
    Als ihre Füße auf dem felsigen Grund bei dem Riff angekommen waren, nahm sie mit letzter Kraft eine Präsenz wahr. Elisa war nicht allein. Im Wasser mit ihr war ein großes Wesen. Sie fühlte es eher, als dass sie es sah. Aber alles um sie herum schien sich zu verändern. Das Wasser war plötzlich wärmer. Dieses Wesen umfasste sie mit einem hellen Ton, fast wie das sonntägliche Glockengeläut vom Alten Michel. Was oder wer auch immer diese Präsenz war, sie schickte ihr ein beruhigendes Gefühl. Leicht und hell wie ein milder Sommertag in ihrem Garten war ihr zumute. Da war kein Druck mehr

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