Tal der Tausend Nebel
schämte sie sich. Sicher hatte Keanu bei ihrem Telefonat gemerkt, dass sie ihm etwas Wichtiges verschwieg. Überhaupt redete sie kaum einen zusammenhängenden Satz, wie es ihr nach dem Auflegen schien. Vielmehr waren es unsichere Halbsätze, abgelöst von ratlosem Schweigen. Sie wollte nicht lügen. Sie konnte ihm aber auch keinesfalls die ganze Wahrheit sagen. Zu tief waren ihre Schuldgefühle, nachdem sie sich für das Kind in ihrem Bauch entschieden hatte. So etwas machte man nicht in der heutigen Zeit. Es gab für eine Frau, die kein Kind mit einem Mann geplant hatte, zu viele Möglichkeiten, dem Mann gegenüber fair zu sein. Männer nach einer einmaligen Bettbegegnung zu Vätern wider Willen zu machen, war nicht in Ordnung, Maja wusste das. Obwohl es nirgendwo geschrieben stand, war es vielleicht sogar die größte Zumutung, die eine Frau heutzutage einem Mann aus angeblicher Liebe vor die Füße legen konnte.
Maja beging in ihren eigenen Augen Keanu gegenüber geradezu so etwas wie ein Verbrechen. Sie hatte schließlich ein Kind mit Stefan geplant. Auch Ina dachte so. Als Maja ihr von der Schwangerschaft erzählte, hatte ihre Freundin sie ungewöhnlich streng angesehen.
»Das ist es also! Jetzt verstehe ich im Nachhinein sehr viel besser, warum du derartig schräg drauf warst!«
Inas Blick wurde noch strenger. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich die steile Falte, die Maja seit ihrer gemeinsamen Kindheit kannte. Alarmstufe rot.
»Du weißt, dass du potentiell drei Menschen sehr, sehr unglücklich machst, vielleicht sogar vier, wenn Stefans Gefühle für dich überhaupt noch eine Rolle spielen … Und hattest du mir nicht erzählt, dass dein hawaiischer Beau mit dem Namen eines unwiderstehlichen Filmstars in diesem Winter heiraten will? Was sagt denn seine Zukünftige zu deinem Egoismus?«
Es war ein unerfreuliches Gespräch gewesen. Aber noch stärker reagierte ihre Mutter, nachdem Maja sich selbst nach mehreren Beratungsgesprächen uneinsichtig zeigte.
»Ich sage dir gleich, Maja, dass ich für dieses Kind nicht als Großmutter da sein werde. Dein Vater und ich haben genug Kummer mit den verunglückten Ehen deiner Geschwister. Ein weiteres emotional unterernährtes Enkelkind verkrafte ich nicht. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Und was tust du Stefan damit an? Stefan wäre ein Mann gewesen, dem ich eine Familie zumindest zutrauen würde …«
Später hatten ihre Eltern im Schlafzimmer gestritten, was selten vorkam. Auch dafür hatte Maja sich schuldig gefühlt, bis ihr Vater ihr am nächsten Morgen gut gelaunt zuzwinkerte.
»Ich wollte immer schon ein Enkelkind ganz für mich allein … Was meinst du, ob es Zwillinge werden?«
Aber es war nur ein einzelnes kleines Wesen, über das Maja jetzt schützend ihre Hand hielt, während sie so leise wie möglich auf der Hollywoodschaukel hin und her schwang. Keinesfalls wollte sie ihren Vater wecken.
Sie sah hoch zu den letzten Sternen, die mit den Lichtern der Küste von Honolulu in der beginnenden Morgendämmerung um die Wette blinkten. Nicht einmal eine winzige Sekunde lang hatte sie gezweifelt, dass das heranwachsende Wesen in ihrem Innern zu ihr gehörte. Nur wie sie mit Keanu umgehen sollte, wenn sie ihn heute auf Kauai treffen würde, das wusste sie noch nicht. Allein wenn sie an ihr Wiedersehen mit ihm dachte, wurden ihre Beine schwach, ihr Mund trocken und ihr Herz hämmerte wie das eines Kolibris. Maja wollte nicht verliebt sein, weil es unrealistisch und vor allem sehr unvernünftig war. Aber ihr aufgeregtes Herz hatte anscheinend keine Ahnung, was das Wort Vernunft überhaupt bedeutete. Leise stand sie von der Hollywoodschaukel auf und ging in ihr Zimmer zurück, um sich noch ein wenig hinzulegen. Es würde ein anstrengender Tag werden.
Später am Morgen musste Maja sich beeilen. Sie war noch einmal eingeschlafen und viel zu spät von ihrem Vater geweckt worden. Da sie ohne ihren Vater nach Kauai vorausfliegen würde, um Keanu zu treffen, musste sie noch ihre Sachen packen. Sie war unsicher, was sie für ihre erste Begegnung mit Keanu anziehen sollte. Ungefähr fünf Kilo hatte sie zugenommen, seit sie sich in Nizza verabschiedet hatten. Ihre Körbchengröße war kein C mehr, sondern ein deutliches D und in ihren Jeans fühlte sie sich längst beengt. Also entschied sie sich für ein hübsches Kleid aus dunklem Türkis mit halblangen Ärmeln, das bis knapp übers Knie reichte. Dazu wählte sie Stiefel und eine leichte Lederjacke, die
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