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Tal der Tausend Nebel

Tal der Tausend Nebel

Titel: Tal der Tausend Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noemi Jordan
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konnte sie nicht ganz und gar verstehen. Wie sollte er auch, er hatte nie ein Kind geboren. Auch wusste er nicht, welchen Pakt Elisa in der Nacht der Geburt mit diesem kleinen Wesen geschlossen hatte. Einen Moment lang schloss Elisa ihre Augen. Es war das reine Wunder, dass das Kind und sie überhaupt noch am Leben waren.
    Der Weg an die Sonne, den ihre kleine Tochter gewählt hatte, war teuflisch, anders konnte Elisa es im Nachhinein nicht beschreiben. Selbst Hoku, die schon vielen Kindern gesund ans Licht geholfen hatte, war nach zwei Tagen und Nächten erschöpfenden Kampfes schließlich ratlos gewesen.
    »Was ist es, Elisa, warum könnt ihr euch nicht voneinander trennen, du und das Kind? Was ist es? Sprich es aus!«
    Elisa war zu diesem Zeitpunkt schon mehr tot als lebendig. Die Worte wollten nicht kommen. Dabei hatte sie die erste Nacht und auch den folgenden Vormittag der Wehen gut überstanden. Sie konnte sich immer wieder ausruhen und hatte dank Hokus Kräutern keine allzu starken Schmerzen. Doch als die Sonne erneut unterging und die zweite Nacht anbrach, begann sie eigenartige Geräusche in ihrem Kopf zu hören. Dann rebellierte ihr Körper. Sie musste sich pausenlos übergeben, obwohl ihr Magen bis auf den Kräutertee völlig leer war.
    Sie hatte nicht mehr das Gefühl, ein Kind zur Welt zu bringen, sondern in ihr hatte ein zerstörerischer Kampf begonnen. Die Geräusche in ihrem Kopf führten sie wieder und wieder in die Grotte zurück, in die Nacht, in der ihr Baby entstanden war. Wie konnte das geschehen? Auch Hoku war ratlos. War es der Mond, der in der zweiten Nacht noch nicht einmal mehr seine Sichel zeigen wollte? War es der stürmische Wind, der vom Meer kam und wütend an den Fensterläden des Palastes rüttelte? Oder war es der Tod selber, der an Elisas Tür klopfte? Elisa wusste es nicht. Ihr Verstand gehorchte ihr nicht mehr. Sie konnte Hoku keine Antwort auf ihre Frage geben. Alles, was sie konnte, war leise zu beten. Deutsche Kindergebete kamen aus ihrem Mund, wie Elisa sie einst in Hamburg im Alten Michel neben ihrem Vater und ihrer Mutter in der Kirchenbank aufgesagt hatte.
    In den kurzen Momenten, in denen ihre Schmerzen nachließen, sah sie sich fiebrig und verwirrt um. Sie sah in Keliis besorgtes goldbraunes Antlitz, nahm Hokus zahllose weise Falten wahr und hörte die beiden gedämpft in den Lauten einer Sprache sprechen, die nicht die ihre war. Angst hatte sie, grenzenlose Angst vor der Dunkelheit, die begann, an ihr emporzukriechen wie eine giftige Schlange. Elisa würde den nächsten Sonnenaufgang nicht erleben, das flüsterte eine Stimme in ihr, die sie an die Stimme ihrer Mutter erinnerte.
    »Du hast Gottes Gesetze gebrochen, weil du in wilder Ehe mit einem Heiden lebst.«
    Dann wurden mehr Stimmen in ihrem Inneren laut. Alle kamen sie in dieser Nacht, die Dämonen in ihrem Inneren, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist das Jüngste Gericht, dachte Elisa in ihrem Fieberwahn. Die lauteste Stimme forderte von Elisa ein Gelübde. Sie musste dem Kind eine gute Mutter sein. Dann würde Gott seine schützende Hand über sie halten und den Tod aus dem Palast jagen. Elisa hatte es versprochen, leise zwar, sodass Hoku und Kelii nicht hören konnten, was sie vor sich hinmurmelte, aber sie hatte es versprochen.
    Das Geräusch von Kutschenrädern riss Elisa aus ihrer Erinnerung an die schlimmste Nacht ihres Lebens, schlimmer noch als die Stunde der Gewalt mit Gerit Janson. Kelii packte sie fest am Arm.
    »Elisa! Bitte, du musst mir das Kind jetzt geben. Es ist doch alles abgesprochen. Es bleibt nicht viel Zeit. Das Baby muss zu Gerit Janson. Er ist extra mit dem Schiff aus Kauai gekommen … Lili’uokalani hat es mir gestern gesagt. Wir wollten dich damit verschonen.«
    Elisa zuckte zusammen. Sie sah die Kutsche in die Hafeneinfahrt von Honolulu einbiegen und erkannte das Wappen der Königin. In einiger Entfernung von ihnen brachte der Kutscher die vier königlichen Rappen zum Stehen. Dann stieg der livrierte große Hawaiianer vom Kutschbock. Elisa sah wie in Zeitlupe, als er den Schlag der Kutsche öffnete.
    Trotz der frühen Morgenstunde war Lili’uokalani tadellos gekleidet. Sie war die Erste, die ausstieg. Ihr folgten zwei Männer. Sanford Dole war an seinem langen, weißen Bart gut zu erkennen. Gerit Janson hingegen hätte Elisa nicht ohne Weiteres erkannt. Er trug einen edlen dreiteiligen Anzug, einen Hut und einen silbernen Stock, da er stark hinkte. Zudem hatte er sich seit

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