Tal der Tausend Nebel
Fast hatte sie sich dazu überwunden, ihn dennoch anzusprechen, als er sich mit knappem Lächeln erhob, freundlich grüßte und ging.
In den Stunden danach, in denen sie gemeinsam in Vorlesungen über den internationalen Bildungswandel saßen, war Maja unkonzentriert. Ihr war, als würde sie seinen Blick in ihrem Rücken spüren. Doch vielleicht war es auch lediglich ihre Einbildung? Ein Mann mit diesem Charme und vor allem einem Aussehen, das gelinde gesagt göttlich war, hatte inzwischen zahllose Verehrerinnen unter den Referendarinnen.
An diesem Abend hatten sie zufällig beim gleichen Eiswagen ein Eis gekauft und saßen nicht weit voneinander auf zwei Parkbänken. Er war zuerst fertig mit seinem Eis und stand auf. Mit einem Lächeln kam er zu ihr und blieb direkt vor ihrer Parkbank stehen, sodass sie zu ihm aufsehen musste.
»Dieser Abend ist zu schön, um zu studieren, finden Sie nicht?« Diesmal war sein Deutsch perfekt. »Wir sollten vielleicht lieber schwimmen gehen oder am Strand entlangspazieren?«
Majas Herz klopfte zum Zerspringen, als sie wortlos nickte. Dann wartete sie auf ein weiteres Wort von ihm, aber er sagte nichts, sondern drehte ihr den Rücken zu. Seine Augen waren jetzt auf die Oberfläche des Meeres gerichtet. Der warme Mistral ließ im Spätsommer Schaumkrönchen auf dem Türkis der Wellen tanzen. Maja meldete Bedenken an.
»Es ist zu wild da draußen, um heute noch zu schwimmen. Es könnte gefährlich sein.«
»Glauben Sie? Das Meer bei uns ist bisweilen wild und unberechenbar, aber hier …?«
In seinen zusammengezogenen Brauen glaubte Maja Sehnsucht zu erkennen. Fieberhaft suchte sie in ihren Hirnwindungen nach einem Gesprächsstoff, der ihn fesseln könnte. Sie musste auf alle Fälle verhindern, dass er gehen würde. Den Strandspaziergang mit ihm wollte sie auf alle Fälle. Maja stand schnell von der Bank auf.
»Ich habe auch meinen Badeanzug nicht dabei. Deshalb vielleicht doch lieber ein paar gemeinsame Schritte unten am Meer?«
Um zu verhindern, dass ihr Hut erneut wegflog, hielt sie ihn fest. Aber der Wind war aufbrausend und ungeduldig. Er zerrte an ihrem Rock und ihren langen dunkelbraunen Haaren, die zu einem losen Pferdeschwanz gebunden waren. Die Krempe des Ungetüms, das ihre empfindliche Haut vor der Sonne schützen sollte, flatterte um ihre Ohren. Ohne seine Antwort abzuwarten, begann Maja, über den berüchtigten Mistralwind an der Côte d’Azur zu sprechen. Sie referierte darüber, wie er die Sinne der Touristen und der Küstenbewohner trübte und allerlei Begierden weckte. Sie versuchte, unterhaltsam und vielleicht sogar witzig zu sein, um auf Keanus verlockend sinnliche Lippen ein Lächeln zu zaubern. Sie hatte viele Geschichten über den Mistral zu erzählen, denn Maja kannte die Gegend hier seit ihrer Kindheit.
»Wirklich? Sie waren schon oft hier? Sie kennen diesen Wind …? Er ist sehr … sehr stark.«
Maja nickte. Sie spürte die Wirkung des Mistrals heute auch besonders intensiv. Als Keanu seinen forschenden Blick erneut auf sie richtete, erzählte sie wortreich, dass der Mistral als Wind des Liebeswahns bekannt sei. Besonders bei Vollmond sei er regelrecht gefürchtet unter den Bewohnern von Nizza. Manch dreister Seitensprung wurde hier ganz einfach dem Mistral zugeschoben.
»Seitensprung?«, fragte er belustigt. Kannte er das Wort nicht, oder sollte das etwa eine Anspielung sein? Maja schoss spontan die Röte in ihre Wangen. Als er jedoch weiterfragte, wurde ihr klar, dass er das Wort wirklich nicht kannte. Seine Deutschkenntnisse waren zwar nicht rudimentär wie sein Französisch, aber mit deutlichem amerikanischen Akzent erklärte er, dass sein Vokabular in Deutsch ziemlich rostig sei.
Keanu hatte eine deutschstämmige Urgroßmutter gehabt, die bis zu ihrem Tod mit neunzig Jahren auf Kauai gelebt hatte. Sie war die berühmte Haifischfrau von Kauai. Er erzählte Maja einiges von seiner Familie und auch von sich, als sie gemeinsam durch die Altstadt von Nizza schlenderten. Der Mistral peitschte inzwischen die Wellen hoch an die Ufer des Kais. Ein Spaziergang am Meeresufer war ausgeschlossen.
Maja erfuhr, dass er zusätzlich zu Französisch und Deutsch auch Kenntnisse in Spanisch, Russisch aber vor allem auch in Chinesisch hatte. Japanisch konnte er überdies fast perfekt durch einen zwei Jahre langen Aufenthalt in Tokio als Aushilfslehrer. Auch auf den Philippinen hatte er unterrichtet und dann einige Monate in China ein Praktikum gemacht. Diese
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