Tal der Tausend Nebel
drei Länder waren genetisch stark in der hawaiischen Bevölkerung von heute vertreten, und er wollte sich ein Bild über die Schulsysteme dort machen. Die Hawaiianer wollten auch außerhalb der amerikanischen Bildungspolitik neue und eigene Wege gehen. Deshalb war Keanu als eine Art Botschafter ausgewählt worden. Weltweit sollte er neue Bildungswege für sein Volk erforschen und Stipendien für Hawaiianer aushandeln.
»Bildung ist meine Leidenschaft …«
Maja konnte es nicht glauben. Die meisten Lehrer, die sie auf ihrem Lehrerseminar kannte, waren keine Männer, die sie auch privat gereizt hätten. Bei Keanu war das anders. Wenn er über die Bildung und die Zukunft seines Volkes sprach, spürte sie eine fast ansteckende Begeisterung. Aber das war nicht das Einzige gewesen, was sie an ihm fasziniert hatte. Der Hawaiianer hatte einige Facetten, die ihn in Majas Augen zum Traummann machten. Wenn sie ihn lächeln sah, ging in ihrem Inneren die Sonne auf. Wieder strahlte er sie an.
»Ich könnte bis in alle Ewigkeit mit Ihnen reden, aber leider habe ich noch ein telefonisches Date mit meinem Chef. Auch wird mein Hunger in Kürze beginnen, meine Laune zu beeinträchtigen …«
Er hatte recht. Es war Abend. Ein kleiner Crêpe zu Mittag war auch für Maja zu wenig. Er fuhr fort. »Bitte verzeihen Sie mir, aber ich muss noch eine Stunde zu einem Treffen. Doch danach könnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als mit Ihnen bei einem gepflegten Essen und einem Glas Wein weiter über mein Lieblingsthema zu reden. Hätten Sie darauf auch Lust? Darf ich Sie einladen? Sie würden mir eine große Freude machen!«
Maja war bezaubert. Dass er vorher leider noch mit seinem Chef telefonieren musste, war zwar lästig, aber sie würde es in Kauf nehmen, denn sie wollte unbedingt noch länger mit ihm zusammen sein.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, inzwischen in diesem Café zu warten?«
Maja hatte keinerlei Problem mit dem Warten, bis er aus seinem Hotel zurückkam, denn es war ein sehr hübsches Café mit Blick auf den Markt für Touristen, der angenehm leer war. Maja mochte das Ende der Saison im September an der Côte. Eine wehmütige Traurigkeit mischte sich in die letzten warmen Tage. Die Farben waren irgendwie intensiver, die Gerüche stärker und das Knattern der Vespas klang wie eine Abschiedsmelodie in ihren Ohren.
Der Sommer war vorüber und mit ihm die Hoffnung auf etwas Außergewöhnliches, etwas, auf das Maja wartete, seitdem sie eine junge Frau war. Ging es allen Frauen so? Warteten sie alle auf den einen Moment, der ihrem Leben eine Richtung geben würde, die einzigartig war? Ihre Gespräche mit Keanu waren besonders, aber nicht nur, weil er attraktiv war, sondern weil er seinen Beruf leidenschaftlich liebte. Das war bei Maja nicht der Fall. Aus ähnlichen Gründen wie Stefan hatte sie sich für eine Laufbahn entschieden, die ihr lag, ihr aber vor allem auch ein bestimmtes Maß an Sicherheit und Flexibilität ermöglichen würde. Bestimmt würde sie trotzdem eine gute Lehrerin werden, so wie auch Stefan fachlich ein guter Arzt war. Doch wenn sie ganz ehrlich war, so tat es ihr weh, wie herablassend Stefan oft über seine Patienten sprach. Er liebte die Menschen nicht. Das war es wohl, was sie an Keanu bewunderte. Er schien die Menschen zu lieben und hatte für jeden ein Lächeln übrig.
Maja hatte mit einem Mal ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Hatte sie Angst vor ihren eigenen Gedanken? War es ihr unangenehm, vor sich selbst zuzugeben, dass es Menschen gab, die in ihrem Inneren mehr Größe hatten als Stefan oder auch sie selbst? Oder fühlte sie Schuld Stefan gegenüber, weil sie ihn infrage stellte? Sein Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Stefan freute sich am meisten, wenn es ihm gelungen war, einen Kollegen auszustechen, oder er bei seinem Chefarzt gepunktet hatte. Auch Schadenfreude brachte ein Leuchten in sein Gesicht.
Maja schluckte. Sie hatte vor einiger Zeit begonnen, an Stefans Charakter zu zweifeln, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Sie hatte sich einfach gesagt, dass jeder Mensch Fehler und Schwächen hatte. Sie selbst hatte unendlich viele davon. Einer ihrer Fehler war, dass sie neue Freunde anfangs gerne glorifizierte. Trotzdem wusste sie instinktiv, dass sie das Café lieber verlassen sollte. Ein Abendessen mit Keanu während des Mistrals war einfach keine besonders gute Idee. Maja hatte Stefan nie betrogen. Jetzt hörte sie in ihrem Inneren eine unmissverständliche
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