Tal der Traeume
Gästeliste. Bis zur letzten Minute hatte sie insgeheim auf eine Einladung gehofft, doch es sollte nicht sein. Weshalb sich also jetzt die Mühe machen? Höchstens aus einem Grund: Sie liebte es, die großen Schiffe anzusehen, übers Deck zu spazieren und durch die Salons zu schlendern, als gehöre sie zu den Passagieren. Genau das tat sie auch heute. Nachdem sie an Bord gegangen war, wich sie der Menschentraube vor Myles’ Kabine aus und wanderte umher, träumte vom Indischen Ozean und der Aufregung bei der Ankunft in Kapstadt. Sie war schamlos neidisch auf Myles und fragte sich ernsthaft, ob sie ihren Vater überreden könnte, sie ebenfalls nach London reisen zu lassen. Oder wenigstens nach Kapstadt; das wäre zumindest ein Anfang. Mach dir keine Hoffnungen, sagte sie sich niedergeschlagen, damit wirst du keinen Erfolg haben.
Während sie an Deck stand und auf den offenen Ozean schaute, trat Mr. Oatley neben sie. »Schöner Hafen, nicht wahr?« Harriet lächelte. »Ich habe eigentlich weiter hinaus geschaut.« »Aha. Wohin denn?« »Vielleicht bis nach Colombo.« Er zwinkerte mit den Augen. »Können Sie es von hier aus sehen?« »Natürlich. Es ist sehr grün, am Ufer wachsen Palmen…« »Und Barkassen bringen Sie zum Strand, wo Eingeborene mit hübschen Saris und Goldarmbändern warten, nur zwanzig Pence, Memsahib…« »Ehrlich?« »Ja, aber es sind Fälschungen.« »Sie waren dort?« »Vor langer Zeit. Heute reise ich höchstens noch nach Singapur.« »Wieso Singapur?« »Ich habe dort geschäftlich zu tun.« »Es scheint Sie nicht sonderlich zu beeindrucken.« »Singapur? Nein. Ein faszinierender Ort, das schon, aber zwischen den Besprechungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen ist es sehr einsam im Hotel.« »Ich dachte, das sei das Beste daran. Die Freizeit, in der man die Gegend erforschen kann.« »Es ist nicht gerade amüsant, allein herumzulaufen«, meinte er. Ein indischer Steward kam vorbei und läutete eine Glocke. »Jetzt müssen alle an Land, die nicht aufs Schiff gehören«, sagte William. »Wir sollten uns von Myles verabschieden, falls wir uns durch die Menge kämpfen können.« »Ich möchte ihn jetzt nicht stören, Mr. Oatley, bitte grüßen Sie ihn von mir.« »Mach ich, mein Fräulein. Bitte entschuldigen Sie mich, es wird Zeit.« Die Anrede »mein Fräulein« klang seltsam altmodisch, doch sie verzieh ihm. Er war ein netter Mensch. Harriet schloss sich der Menge an, die vom Schiff strömte. Bänder flatterten vom Schiff zum Land, zerrissen und fielen in den immer breiter werdenden Spalt zwischen Pier und Schiff, der Freunde und Familien trennte. Die Freude machte Beklommenheit und Tränen Platz. Die Menschen gingen ernst davon, andere standen regungslos da und schauten dem Schiff nach, bis es verschwunden war. Selbst Merle Cunningham war bewegt. »So etwas kann ganz schön auf die Stimmung schlagen, nicht wahr? An Bord amüsieren sich die Passagiere mit Champagner, und in Perth wartet die große Leere auf uns.« »Das glaube ich kaum«, meinte Harriet. »Ich stelle mir vor, dass viele Leute sehr traurig sind, weil sie die Ihren zurücklassen müssen, sie vielleicht auf Jahre hinaus nicht wieder sehen.« »Oh, Harriet! Musst du denn alles dramatisieren? Ich bin sicher, Myles Oatley hat schon die Bar aufgesucht.« Ihr Ehemann wies sie zurecht. »Sag das bitte nicht in Williams Gegenwart. Er steht ganz allein da drüben und sieht reichlich niedergeschlagen aus.« »Wieso das?« »Myles ist sein einziges Kind, und er ist Witwer. Sicher vermisst er den Jungen.« Cunningham hatte Recht. Mr. Oatley wirkte verloren, nachdem ihn Myles’ Freunde, die an Bord so übermütig mit ihm angestoßen hatten, offensichtlich sich selbst überlassen und das Pub von Fremantle aufgesucht hatten, um dort ihre Feier fortzusetzen. Harriet wusste es zu schätzen, dass ihr Vater William Oatley einlud, gemeinsam mit ihnen die Fähre flussaufwärts nach Perth zu nehmen. Der verlassene Vater nahm das Angebot mit ernster Miene an. Die Rathausuhr schlug sechs, als sie die Hay Street entlanggingen. Die Gaslampen flackerten auf. Die Herren hatten auf der Fähre leise über ihre Geschäfte gesprochen und die Frauen ihren eigenen Gedanken überlassen, doch nun wandte sich Mr. Oatley an Mrs. Cunningham. »Falls Sie heute Abend nichts anderes vorhaben, würde ich Sie alle gern zum Abendessen ins Palace bitten. Der Speisesaal öffnet jeden Augenblick, und man isst dort hervorragend.« Mr. Cunningham meinte: »Das ist nett
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