Tal der Traeume
Harriet rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Ihr graute vor der nächsten Begegnung mit Mr. Oatley, die nun unvermeidlich schien. Hoffentlich vergaß er sie einfach.
Er vergaß sie nicht. Harriet kaufte kein neues Kleid. Aus Trotz zog sie das blaue Seidenkleid an, das seit Urzeiten hinten im Schrank hing, ließ das Haar offen und setzte einen alten Hut ihrer Mutter auf. Merle war außer sich. »Was soll das mit dem alten Kleid? Soll er uns für Bettler halten? Los, zieh das Taftkleid an.« »Es ist zu aufgeputzt.« »Dann das aus Voile, das ist ein schönes Kleid.« »Das hier reicht auch.« Merle appellierte an ihren Ehemann. »Oscar, unternimm etwas, sie muss sich umziehen.« »Warum? Sieht doch nett aus.« Das fand auch Mr. Oatley. Er erklärte, sie sehe bezaubernd aus. Der Abend war kein Erfolg. Das Gespräch quälte sich dahin, bis sie im Hotel ankamen. William Oatley wirkte auf einmal schüchtern, unsicher und so offensichtlich bemüht, ihr zu gefallen, dass es Harriet peinlich war. Die Unterhaltung war von unbehaglichen Pausen geprägt. Zum Glück wurden sie rasch bedient, und obgleich sich die Zeit dahinschleppte, standen sie vor acht Uhr schon wieder in der Hotelhalle. Auf dem Heimweg entschuldigte er sich. »Es tut mir Leid, Harriet, ich hätte Sie nicht diesem langweiligen Abend aussetzen sollen.« »O nein, Mr. Oatley«, sagte sie und erinnerte sich sogleich daran, dass er sie gebeten hatte, ihn beim Vornamen anzusprechen, »es war ein netter Abend.« »Nein. Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen, aber es ist nicht nötig. Es war mein Fehler, Sie derart zu überrumpeln und in eine schwierige Lage zu bringen. Schließlich kennen Sie mich kaum.« »Schon gut, wirklich.« Harriet ging es besser, da ihre Qualen nun ein Ende hatten. Er verzog das Gesicht. »Ich hoffe, dies hat unserer Freundschaft nicht den Todesstoß versetzt.« William beließ es dabei. Zumindest für den Augenblick, denn so leicht würde er nicht aufgeben. Er mochte Harriet Cunningham, obgleich das Abendessen ein Fehler gewesen war. Er hatte von Beginn an gemerkt, dass sie sich allein mit ihm unbehaglich fühlte, was bei einem jungen Mädchen auch nur angemessen erschien… doch noch war nicht alles verloren. Unter den richtigen Umständen war sie aufgeweckt und offen, sie unterschied sich von der breiten Masse. Außerdem sah sie gut aus, war groß und schlank, ohne aufgeputzt zu wirken. Er fand, sie beide gäben ein attraktives Paar ab. Bis er diesem Mädchen begegnet war, hatte er überhaupt nicht an eine Wiederheirat gedacht, doch sie faszinierte ihn. Er musste sich eingestehen, dass er sich nach dem Abschied von Myles sehr einsam gefühlt hatte, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Immerhin gab es zu Hause noch Pop, seine Geschäfte hielten ihn auf Trab, doch als er Harriet auf dem Schiff erblickte, hatte er sich irgendwie betrogen gefühlt. Betrogen, weil er seine geliebte Frau verloren hatte, die in seinen Augen immer jung geblieben war, und ihm kam die Erkenntnis, dass ein Mann sich nicht die Freuden einer Gefährtin versagen sollte. Er lieferte Harriet pflichtgemäß bei ihren Eltern ab, erleichtert, weil ihre Schüchternheit verflogen war, und trank noch einen Whisky mit Oscar. Eines wusste er mit Sicherheit: Die Eltern würden keine Einwände gegen seine Werbung um ihre Tochter erheben.
Auf dem Weg zum Hotel besserte sich Williams Laune. Der nächste Drink würde ein Genuss werden, ein Trost nach der Qual der letzten Stunden. Dabei konnte er darüber nachdenken, wie die Situation zu retten war. Denn es war wirklich ein grober Fehler gewesen, auf das Mädchen loszugehen wie ein Wilder. Als er sich mit einem guten, starken Whisky in dem bequemen Liegestuhl auf der Veranda vor seinem Hotelzimmer niedergelassen hatte und die kühle Nachtluft einsog, konnte er sich dem Problem mit klarem Kopf widmen. Und einem Gebet um Verständnis, das er an Emily May richtete. Harriet erinnerte ihn ein wenig an seine verstorbene Frau: der Schwung ihrer Lippen, das breite Lächeln, das freundliche Wesen. Außerdem wirkte sie abenteuerlustig… so war auch Emily May gewesen. Sie hatte das Reisen geliebt und suchte sogar, wenn sie zu Hause auf der Station lebten, immer nach Neuem. Solche Frauen traf man selten. Vielleicht lag darin der Weg zu Harriets Herz, vielleicht konnte er ihr ein interessanteres Leben bieten als ein junger Bursche, der für sie nur ein Haus im Vorort und einen Haufen Kinder bereithielt.
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